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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen
Autoren: Diana Evans
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herrlich dort oben, wärmer und irgendwie kühler. Er wuchs über sich hinaus und wurde so viel mehr und weniger als nur ein kleiner Junge.
    Antoney nahm diese Träume sehr ernst. Ihm waren sie real. Von ihnen erwarb er ein tiefes Misstrauen dem Begriff des Unmöglichen gegenüber. Alles ist Täuschung. Lass dich nicht blenden. Schau hinter die Maske der Täuschung.
    In den wachen Stunden suchte er nach Arten und Weisen, dem Boden zu entkommen. Er ging nicht, er rannte, sprang von einem Ort zum anderen und traktierte die alte Seilschaukel über dem Schlammpfuhl. Er kletterte auf Leitern. Er verweilte hoch oben in Baumkronen. Er fragte sich, ob er eines Tages in einem Flugzeug fliegen würde. Das war am tollsten: rennen, springen, schweben, wirbeln. Es fiel ihm schwer, sich für längere Zeit in Innenräumen auf unbewegliche Objekte zu setzen, zum Beispiel auf Stühle, zum Beispiel in der Schule (was sich zum Kummer seiner Mutter in den Noten niederschlug). Er mochte es einfach nicht. Lieber saß er draußen auf dem grasigen Hügel bei Miss Enids Laden, wo er eines Tages, den Blick, wie es seine Gewohnheit war, in den Himmel gerichtet, einen tänzelnden rot-weißen Drachen sah, mit Schleifen am Schwanz. Antoney sah ihm lange Zeit zu, wie er kurvte und kreiste und tanzte, bis der Drachen den Himmel eilig über eine Diagonale hinab in die Bäume verließ.
    Antoney begab sich sofort auf die Suche nach seiner Mutter. Er fand sie auf dem Rückweg von Mr. Chambers’ Heim in den Hügeln, wo sie die Hausarbeit machte. Dem folgte am späten Nachmittag eine Schicht in der Bar gleich neben Miss Enids Laden, in der Irish Moss, angeblich ein Aphrodisiakum aus Seetang, sehr beliebt war; der Seetang wurde an der weitläufigen Küste vor der Stadt aufgesammelt, gewaschen und zum Trocknen an Marktstände und Ladenfronten gehangen.
    Antoney eilte auf seine Mutter zu und sagte: »Mama, ich will ein Drachen sein.«
    Florence verstand nicht. Sie war streng mit ihrem Sohn und mochte sich nicht auf vage oder gedankenlose Gespräche einlassen. So etwas verlockte nur, führte ihn nur vom rechten Weg ab. »Was soll das heißen, du willst ein Drachen sein?«
    Er hüpfte um sie herum, er strengte sie an. Das war Elizas Schuld, dass er so war. Eliza hieß der Hurrikan, der am Abend von Antoneys Geburt gewütet hatte – kein verhängnisvoller Sturm, nur einige Bäume und Zäune wurden gefällt, aber Florence erinnerte sich gut an das Gefühl, den Säugling in den Armen zu halten, während Eliza vorüberzog. Wie zart so ein Kind doch war, ein Blatt im Auge des Sturms! Florence glaubte, dass Eliza in Antoney noch immer wehte – sie war in ihn gefahren und hatte ihn wie einen brodelnden Kessel aufgewühlt, und darum konnte er nicht still sein.
    Seine Arme schwangen nach links, nach rechts. Zwei Hüpfer, dann ein Sprung. »Ich will in der Luft sein«, erklärte er sich seltsam, »im Wind wehen. Und helle Farben tragen.«
    »Das ist doch Blödsinn. Komm, Junge, lass das dumme Gequatsche.« Sie reichte ihm ihren Beutel, gemeinsam gingen sie den Pfad zum Haus hinauf. »Du wirst was Besseres«, sagte sie. »Arzt oder Apotheker. Wirst ordentlich verdienen. Und deshalb musst du dir in der Schule auch mehr Mühe geben.«
    Neben seiner Mutter verzog Antoney heimlich das Gesicht. Er begriff, dass es zweierlei Menschen gab: solche mit Flugträumen und solche ohne.
    Florences Hochzeitskleid wartete unter einer Plastikhülle, im Mandarinen-Haus. Es war das Kleid ihrer Tante Ivy und vor zwanzig Jahren bei deren Trauung mit einem Maurer zum Einsatz gekommen. Sie hatten durchgehalten. Sie lebten immer noch in seinem Haus am Fluss, und Tante Ivy bereitete ihm immer noch am Sonntagmorgen, bevor sie in die Kirche gingen, Ackee und Salzfisch zum Frühstück.
    Es war ein gebrochen weißes Kleid mit Spitzensaum. Florence war nicht nur mit ihren siebenundzwanzig Jahren eine späte Braut, sie war auch zierlicher als Ivy seinerzeit, und daher musste das Kleid geändert werden. Es war nicht das Kleid, das Florence gewählt hätte, wenn sie in einem großen Haus mit Glastür leben würde, in Stony Hill oder in Fort George. Doch das tat sie nicht, noch nicht jedenfalls. Im Moment aber war nur wichtig, dass sie mit Mr. Rogers zum Altar schritt und ihn heiratete. Alles Weitere würde sich finden.
    Sie glaubte, insgeheim, an sein Saxofon. Florence war eine von den Frauen, die anders wirkten, als sie wirklich waren. Wenn es selbst ihr so schien, als wollte sie das eine, dann
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