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Als wäre es Liebe

Als wäre es Liebe

Titel: Als wäre es Liebe
Autoren: Nicol Ljubic
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Park in der Nähe des Kinos den ersten Mord. Die Leiche seines Opfers, der vergewaltigten und durch Aufschlitzen der Kehle ermordeten 49-jährigen Hilde K., wurde am 26. Februar 1959 bei der Autobahnanschlussstelle Karlsruhe-Durlach gefunden. Im März 1959 missbrauchte er in einer Holzhütte am Rande von Hornberg die 18-jährige Karin W., erschlug die junge Frau mit einem Stein und warf ihre Leiche über die Flussböschung am nahegelegenen Bahndamm. Am 31. Mai 1959 ermordete er in einem Zug die 21-jährige Dagmar Kl. durch einen Messerstich in die Brust, warf ihre Leiche auf der Rheintalbahn Richtung Basel kurz hinter Freiburg im Breisgau aus dem fahrenden Zug und betätigte anschließend die Notbremse. Er stieg aus, ging zur Leiche seines Opfers zurück und schleifte sie zu einem nahegelegenen Feldweg, wo er sich an der Toten verging. Am 8. Juni drang P. über ein offenes Fenster nachts in das Zimmer einer 15-Jährigen ein und verletzte sie schwer durch Messerstiche in den Hals, wurde jedoch durch ihren zu Hilfe eilenden Vater in die Flucht geschlagen. Am 9. Juni 1959 vergewaltigte er in der Nähe von Baden-Baden die 16-jährige Rita W., erwürgte sie und deponierte ihre Leiche in einem Waldstück, wo sie am folgenden Tag gefunden wurde. Am 22. Oktober 1960 wurde er zu sechsmal lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt; es war der bis dahin strengste Schuldspruch eines bundesdeutschen Gerichts der Nachkriegszeit.
    Vielleicht wird sich der ein oder andere fragen, wie es für mich war, als ich erfuhr, dass meine Mutter diesen Mann offensichtlich liebte. Weil es doch nicht zu verstehen ist. Ein Mensch, der die Nähe eines Mörders sucht, sich in seine Arme sehnt, mit dem kann etwas nicht stimmen. Und dann handelt es sich bei diesem Menschen auch noch um die eigene Mutter. Noch dazu eine Mutter, die bis dahin jegliche Nähe gemieden hat. Ich könnte es mir einfach machen und sagen: Ich war eifersüchtig.
    Meine Mutter sagte, die einzige Liebe, die er erfahren habe, sei die zu seiner Schwester und seinen Großeltern gewesen, »und seine Schwester kam ins Erziehungsheim, nachdem sie dabei erwischt wurden, wie sie sich küssten, weil sie – wie die Großmutter sagte – sich nicht wie Geschwister küssten, sondern wie Liebende«. Meine Mutter sagte, sogar im Gutachten hätten sie ihm attestiert, dass er ein Verlangen gehabt habe nach gefühlshaften Beziehungen und Bindungen. Ich hörte zu, wie sie über ihn als jungen Mann sprach, über seine Bedürfnisse und Sehnsüchte, obwohl sie ihn erst Jahrzehnte später kennengelernt hatte, als sie selbst schon achtundfünfzig war. Ich sagte nichts. Es war das erste Mal, dass ich sie so reden hörte, mit so viel Empathie. So seltsam es vielleicht klingen mag, es brachte mir meine Mutter näher. Ich glaube, sie war froh, jemanden zu haben, der ihr zuhörte. Und ich war froh, ihr so nahe zu sein wie in all den Jahren zuvor nicht. Sie rief mich sogar regelmäßig an, um mir zu berichten, wenn sie eine Ausführung vor Gericht erstritten hatten oder wenn er mal wieder von den Vollzugsbeamten malträtiert wurde. Ich würde sagen: Ich war eifersüchtig und dankbar, auch wenn es im ersten Moment nicht so klingt, als wäre beides möglich.

Ich sitze in ihrer Küche, an ihrem Tisch, mit Blick auf den Balkon. Auf diesem Platz sitzt sonst meine Mutter. Vor mir liegt die aufgeschlagene Zeitung. Ich sehe das Foto eines jungen Mannes, der hinter einer Balustrade sitzt. Die Haare streng zurück gekämmt, der Blick starr und, meinem Empfinden nach, kalt und furchteinflößend. Zu sehen ist Friedrich P. kurz vor Beginn seiner Verhandlung am Landgericht Freiburg. Damals ist er zweiundzwanzig Jahre alt und hat keinerlei Ähnlichkeit mit dem Nikolaus. Als feingliedrigen Mann hat ihn eine Zeitung beschrieben, als Mann mit nicht unsympathischen Gesichtszügen, der unschuldig jungenhaft lächeln kann. Und die Frage angehängt, wie dieser junge Mann auch nur eine Fliege töten könne.
    Meine Mutter kennt das Foto. Wahrscheinlich besser als jede andere. Sie hat in seinem Gesicht etwas sehen wollen, was andere nicht sahen. Sie sah einen Mann, einen verunsicherten Mann, einen, der sich ertappt fühlt, und in den Augen, die auf die Kamera gerichtet sind, einen Ausdruck von Schrecken. Sie sah einen im tiefsten Inneren verängstigten Mann. Die Lippen aufeinandergepresst. Sie fragte mich, warum das außer ihr und dem Pfarrer niemand gesehen hat. Er hat sich danach nie wieder fotografieren lassen. Das Foto,
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