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Als wäre es Liebe

Als wäre es Liebe

Titel: Als wäre es Liebe
Autoren: Nicol Ljubic
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Regel nach unten fällt. Er riss seinen Arm nach oben und drückte dabei seinen Daumen in die frisch verputzte Decke. Und dann? Stürzte er? Nein, in ihrer Vorstellung hielt er sich auf der Leiter, sie wankte ein wenig. Er wusste nicht, dass er einen kleinen Abdruck hinterlassen hatte, der ihr half, nicht zu sehen, was sie nicht sehen wollte, und nicht zu fühlen, was sie nicht fühlen sollte.
    Sie fand ein Blatt, ein beliebiges, zwischen all den Blättern, die an den Ästen hinter ihr hingen. Sie versuchte, es sich einzuprägen, ein sattes Grün, von einer Ader in der Mitte zerteilt, hätte sie es zwischen die Finger genommen, hätte sie einen weichen Flaum gespürt. Sie hätte es nicht abpflücken können, weil es zu hoch hing. Es hing in seiner Reichweite. Er hätte es ihr pflücken können. Aber er hatte gerade anderes zu tun. Er suchte nach Worten. »Stundenlang möchte ich mit dir spazieren«, sagte er. Und sie begriff nicht. Hatte noch das Blatt im Blick. Nichts anderes. »Du hast ein schönes Lächeln«, sagte er, »und angenehme Proportionen.« Dann kam eine Bö und riss das Blatt weg, es stieg in die Luft, wirbelte hoch hinauf und trudelte abwärts. Und fiel zu Boden.

Es ist eine Woche her, dass ich in der Wohnung meiner Mutter war, um den Ginkgo zu gießen. Ich habe die Nacht bei ihr verbracht, in ihrem Bett, und habe dann am Morgen des nächsten Tages die Wohnung verlassen. Nicht ohne den Ginkgo noch mal gegossen zu haben. Ich habe ihr Moleskine wieder in die Schublade gelegt und die Zeitungsartikel so hinterlassen, wie ich sie vorgefunden hatte. Drei Tage später ist meine Mutter zurückgekehrt. Von der Reise hat sie nicht viel erzählt, nur dass sie in Italien war und Abschied genommen hat. Sie hat auch den Ginkgo mit keinem Wort erwähnt. Sie hätte mir ruhig sagen können, dass Ginkgos im Winter ihre Blätter abwerfen und wochenlang ohne Wasser auskommen. Aber vielleicht hat sie es selbst nicht gewusst, oder sie wollte es mir nicht sagen, weil ich sonst keinen Grund gehabt hätte, ihre Wohnung aufzusuchen.
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