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Als wäre es Liebe

Als wäre es Liebe

Titel: Als wäre es Liebe
Autoren: Nicol Ljubic
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das Fenster öffnen müsste.

Er war sechsundsechzig, als meine Mutter ihm das erste Mal schrieb. Mit seinem schütteren Haar und dem weißen Rauschebart sah er aus wie der Nikolaus. Sie hat mir ein Foto gezeigt, das sie als Lesezeichen benutzte. Meine Mutter erzählte, dass die Kinder auf ihn zugelaufen seien und er Süßigkeiten aus seiner Tasche geholt habe, Lakritze und weiße Mäuse, die er immer als Erstes kaufte, wenn er für ein paar Stunden herauskam aus dem Gefängnis. Zusammen sind sie mit dem Schiff den Neckar hinaufgefahren, sie haben in Maulbronn das Kloster besucht und die Wilhelma in Stuttgart. Sie sind auf den Fernsehturm, weil er gehört hatte, dass man hochfahren konnte, 150 Meter, und von oben nicht nur über die Stadt schauen konnte, sondern auch weit ins Umland hinein. Der Mann im Fahrstuhl hatte sie gewarnt, es sei kein guter Tag, aber sie sind trotzdem hoch. Als sie oben ankamen, standen sie im Nebel. Es hat ihr leidgetan, weil er sich so gefreut hatte. Dann aber sah er ein paar Kinder, die ihre Gesichter gegen die Fenster drückten und riefen: »Man sieht ja gar nichts!«
    »Ho, ho!«, sagte er und stellte sich neben sie. »Ich sehe ganz viel.«
    Die Kinder drängten sich um ihn herum. »Wo?« – »Was siehst du, Nikolaus?«
    Als sie merkten, dass er selbst nichts sehen konnte, sagte ein Junge: »Du lügst.«
    Aber das Mädchen, das neben ihm stand, sagte: »Es ist, wie wenn du die Augen zumachst. Dann kannst du alles sehen, was du möchtest. Nur musst du hier nicht mal die Augen zumachen.«
    Und dann standen sie nebeneinander vor dem Fenster und zählten auf, was sie sahen.
    »Er kann gut mit Kindern«, hatte meine Mutter gesagt. Sie hatte das Foto mit beiden Händen gehalten, so fest, dass aus den Kuppen ihrer Daumen das Blut gewichen war. Sie wäre gern mit ihm geflogen, nach Asien oder sonst wohin, sie wäre gern dabei gewesen, wenn er das erste Mal im Flugzeug sitzt, seine Stirn an das ovale Fenster drückt und die Welt betrachtet. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie das wäre, mit ihr zu fliegen. Ich sah die Berge, die weißen Gipfel, ich folgte den Straßen und war erstaunt, wie selten ich Ansammlungen von Häusern sah, obwohl dort unten, in diesem Land, so viele Menschen lebten. Aber was ich sah, war Land, weites, unbewohntes Land. Mal einen See. Mal einen Hain, wie eine verlorene Insel auf gefurchtem, parzelliertem Land. Ich sah manchmal Lichtreflexe, als hielte jemand einen Spiegel in die Sonne. Ich sah wie Städte an den Rändern zerfaserten, die Abstände zwischen den Häusern immer größer wurden. Ich sah das Meer, den Küstenverlauf, die Inseln. Es relativiert sich vieles, wenn man sieht, dass die Welt nur von begrenztem Umfang ist. Und wenn man keinen Menschen sieht, weil er einfach zu klein ist, um ihn aus dieser Höhe wahrzunehmen. Meine Mutter war sich sicher, dass alles hätte anders kommen können, sie glaubte, eine andere Perspektive hätte ausgereicht.
    Ich stellte mir vor, wie sie ihre Hand auf seine legte, wie sich seine an der Armlehne festhielt, während das Flugzeug durch Wolken flog. Er hätte die Orientierung verloren, weil es nichts gab, woran er seinen Blick hätte heften, nichts, an dem er Anfang oder Ende hätte festmachen können. Es hieß, er habe große Hände gehabt, Hände, die zu groß waren für einen Menschen, von Pranken war die Rede. Sie hatte gesagt, so fühlten sich keine Pranken an, so weich und zart, trotz ihrer Größe, aber wer wüsste das schon, außer ihr? Sie war auch die Einzige, die versuchte, einen Unterschied zu machen zwischen seiner rechten und seiner linken Hand. Sie redete sich ein, dass seine rechte Hand nichts dafür konnte; dass es der andere Arm war, der sich um den Hals der Frauen gelegt und ihnen den Kehlkopf zerdrückt hatte. Er selbst hatte ausgesagt, dass es sein linker Arm war, der die heimtückische Halswürgezange anwandte. Die rechte Hand wollte sie nur am Schreien hindern.
    So wie sie von ihm sprach, hatte ich den Eindruck, die Tatsache, dass er vier Frauen getötet hatte, erschiene ihr nebensächlich. Sie sagte, dass er, so wie sein Leben verlaufen sei, nicht anders gekonnt habe. »Es hat ihn überfordert, in Beziehung zu einer Frau zu treten«, sagte sie, »er stand doch selbst in keiner Beziehung zu sich.« Meine Mutter war sehr einfühlsam. Wie hätte er auch in Beziehung zu einer Frau treten sollen, sagte sie, nach allem, was er erlebt und erfahren hatte? Und dann war er auch noch an die falschen
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