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Als wäre es Liebe

Als wäre es Liebe

Titel: Als wäre es Liebe
Autoren: Nicol Ljubic
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das ich in der Zeitung sehe, ist das einzige, das sie von ihm haben.
    Er war schon seit Jahren krank. Er hatte Krebs und er war Diabetiker, das hat sie mir auch erzählt. Als sie ihn das erste Mal sah, hatte er schon keine Zähne mehr, weil sie ihm der Reihe nach gezogen worden waren, nachdem er über Zahnschmerzen geklagt hatte. Er hatte auch eine Niere weniger, weil die Ärzte ein Karzinom entdeckt hatten. Ein bis fünf Jahre hatten sie ihm gegeben. Dann entdeckten sie auch noch Metastasen in den Lymphknoten.
    Als sie mich gestern anrief, habe ich ihre Stimme erst nicht erkannt, sie klang so leise und in sich gekehrt. »Er wollte in Freiheit sterben«, sagte sie. »Aber nicht mal seinen letzten Wunsch haben sie ihm erfüllt, und das, obwohl er seine Strafe längst verbüßt hatte. Dabei muss selbst ein zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilter die Hoffnung haben, noch einen Rest des Lebens in Freiheit verbringen zu können, das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Und er darf nicht von Siechtum und Todesnähe gekennzeichnet sein. Aber das war ihnen egal. Habe ich dir erzählt, dass er am Ende Windeln tragen musste?«
    Dann war es für einen Moment still. Ich hörte, wie sie atmete.
    »Weißt du, er hatte einen Traum. Er wollte einen Bauernhof kaufen und sich dort um Waisen kümmern. Aber es hat ihm niemand geglaubt. Für ihn galt nicht, was für alle anderen Menschen gilt: dass sie sich ändern können.«
    Ich sehe hinaus. Draußen schieben sich dunkle, schwere Wolken träge vorbei. Es wird nicht mehr lange dauern und ein Regenguss wird auf die Stadt niederprasseln.
    »Sie wollten ihn auf dem Dorffriedhof verscharren, aber dann kamen die Reporter der Bild -Zeitung und haben bei den Bewohnern geklingelt und ihnen gesagt, die Bestie, so nannten sie ihn, solle auf ihrem Friedhof beerdigt werden, ob sie das wollten. Die Bewohner haben der Bestatterin gedroht, sie würden die Leiche wieder ausgraben, falls sie auf die Idee käme, ihn auf ihrem Friedhof zu beerdigen. Ich habe mit dem Pfarrer telefoniert. Er hat beschlossen, Friedrich einäschern zu lassen. Er will nicht, dass Geld gemacht wird mit seinen Körperteilen. Er sagte, es gebe Menschen, die viel Geld zahlen würden für Leichenteile von Mördern. Und für Pathologen scheint es, ein gutes Geschäft zu sein. Besonders beliebt sind Finger. Ich mag mir gar nicht vorstellen, dass sich jemand seine Finger in einem Glas aufbewahrt.«
    Sie hat den Kampf verloren. Der Kampf, der ihr so wichtig war, wichtiger als alles andere, wie mir schien. Als hätte es für sie in den Jahren nichts anderes gegeben. Im Nachhinein kommt es mir vor, als hätte sie einen Kokon um sich und ihn gesponnen, einen Kokon der gegenseitigen Abhängigkeit und Illusion.
    Ob ich erleichtert war über seinen Tod?
    Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.
    »Und jetzt?«, hörte ich mich sagen.
    »Ich werde eine Reise machen«, sagte sie, »ich weiß noch nicht, für wie lange.«
    »Und dann?«
    »Dann weiß ich noch nicht.«
    Sie bat mich dann noch, mich um ihren Ginkgo zu kümmern. Sie sagte nicht, den, sondern: meinen Ginkgo. Ich wunderte mich über die Vertrautheit, mit der sie über eine Pflanze sprach, ausgerechnet meine Mutter. Ich hatte ihr mal Blumen zum Geburtstag gebracht, einen Strauß, von der Blumenhändlerin ausgewählt, Gerbera, Rosen, Chrysanthemen, ein bisschen Kamille, nicht besonders einfallsreich, ich weiß, aber immerhin hatte ich an ihren Geburtstag gedacht. Sie machte keine Anstalten, mir den Strauß aus der Hand zu nehmen, den ich ihr, nachdem sie mir die Tür geöffnet hatte, entgegenhielt. Ich legte den Strauß auf den Wohnzimmertisch, wo er dann den Rest des Nachmittags liegen blieb, bis ich ihn, bevor ich ging, in die Küche brachte und, weil ich keine Vase fand, in einen Topf mit Wasser legte.
    Vor fünf Jahren ist sie in ein Mehrfamilienhaus gezogen, einem dieser Siebziger-Jahre-Bauten mit großen Balkonen, einem Treppenhaus hinter Glasbausteinen und vor dem Haus ein paar Rasenflächen, Bäume und gepflasterte Wege. Ich glaube, sie ist froh über die Anonymität, wenn sie niemandem im Treppenhaus begegnen muss. Ich glaube auch, dass sie hierhin in eine Zwei-Zimmer-Wohnung gezogen ist, weil sie sich ihre vorherige Wohnung nicht mehr leisten konnte. Wovon meine Mutter eigentlich lebt, weiß ich nicht so genau. Sie hat sich mal im Filmgeschäft versucht, nachdem sie einen Regisseur kennengelernt hatte. Sie drehte einen Film über ein Brüderpaar mit dem
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