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Als wäre es Liebe

Als wäre es Liebe

Titel: Als wäre es Liebe
Autoren: Nicol Ljubic
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Kind hatte sie ihre Großmutter gefragt, was nach dem Tod käme. Und ihre Großmutter sagte, dass es Menschen gebe, die ans Paradies glaubten. Und dort gebe es einen neuen Himmel und eine neue Erde und kein Meer. Und keinen Tod und keine Trauer mehr. Und weder Sonne noch Mond, die leuchteten. Und auch keine Nacht. Weil Gott das Paradies erleuchtete. Und Bäume, die jeden Monat ihre Früchte trügen. Und sie stellte sich eine Welt ohne Meer vor und dachte, dass sie in keiner Welt ohne Meer leben wollte. Und sie stellte sich auch eine Welt vor, in der es immer hell war, und fragte sich, wie sie schlafen sollte, wenn es keine Nacht mehr gab. Und dann fragte sie ihre Großmutter, ob sie an das Paradies glaube. Sie schien zu überlegen und sagte dann, dass sie nicht an das Paradies glaube. Nach dem Tod komme das Nichts. Sie musste damals oft an dieses Nichts denken. Meist wenn sie im Bett lag und das Licht ausgeschaltet hatte. So kam es wahrscheinlich, dass die Dunkelheit ihre Vorstellung vom Nichts geprägt hatte. Und sie fand diese Vorstellung faszinierender als das Paradies, in dem es weder Nacht noch Finsternis gab. Und kein Meer. Und, was ihre Großmutter damals nicht sagte, dass auch die Unzüchtigen und die Mörder draußen blieben.
    Irgendwann machte sie Licht, kochte sich einen Kaffee und setzte sich an den Küchentisch. Sie hatte nicht abgeräumt, Teller und Tasse standen noch vom Vortag auf dem Tisch. Auf der Küchenuhr sah sie, dass es kurz nach vier war, viel zu früh. Sie fuhr ungern nachts. Und dann noch so eine weite Strecke. Siebenhundert Kilometer. Aber sie konnte nicht noch Stunden herumsitzen. Sie trank ihren Kaffee. Sie duschte, zog sich an und packte ihre Sachen. Dann warf sie einen Blick in die Schublade. Sie nahm noch mal seinen Brief in die Hand, seinen letzten, der obenauf lag. Dann machte sie das Licht aus und verließ in der Dämmerung die Wohnung.

Ich betrachte seine Schrift. Die Worte sind in Druckbuchstaben geschrieben, ungelenke, große Buchstaben, als habe sich ein Kind mit dem Schreiben große Mühe gegeben.
    ich denke oft an den tag wenn ich rauskomme und abends nicht mehr zurück muss wenn ich draußen bin dann möchte ich an den ort den ich mir seit neunundvierzig jahren vorstelle ich merke mir den namen und die nummer des zuges 966 ich weiß nicht wo der ort ist als ich in den zug steige aber dann höre ich dass wir nach italien fahren ans meer wo ich nie war und wo ich hin will wenn ich raus komme
    Sie hat einen kleinen Stapel von Briefen, sie liegen in der Schublade auf dem Stuhl neben mir. Meine Mutter muss sie aus dem Schreibtisch gezogen und hierhin gestellt haben. Neben den Briefen sind da noch jede Menge Artikel, ausgeschnittene und kopierte, auch Seiten aus einem Gutachten. Sie hat über die Jahre hinweg alles gesammelt, was über ihn geschrieben wurde. Auf den vielen Fotos in den Zeitungsartikeln ist immer nur der junge Mann zu sehen. Es scheint, als wäre meine Mutter die Einzige, die ein anderes Bild von ihm hat. Aber ich kann es in der Schublade nicht finden, dieses Bild vom Nikolaus.
    Ich kannte ihn nur vom Hörensagen. Zu uns war er nie gekommen. Aber die anderen Kinder erzählten, dass er rot gekleidet sei wie der Weihnachtsmann und einen Sack dabeihabe mit Geschenken. Und dass er fragte, ob man artig gewesen sei, und dann auch die Eltern fragte, und erst wenn die nickten, in den Sack griff und ein Geschenk herausholte. Für die anderen, die nicht artig waren, hatte er die Rute dabei. Obwohl ich von keinem Kind gehört hatte, das vom Nikolaus geschlagen oder in den Sack gesteckt wurde, blieb doch immer auch die Angst vor diesem Mann. Meine Eltern mochten ihn nicht. Deshalb kam er auch nicht zu uns. Ich glaube, sie haben in ihm einen Erfüllungsgehilfen der staatlichen Repression gesehen. Ein Mann, der darauf achtete, dass alle Kinder artig blieben, nicht aus der Reihe tanzten, sich anpassten – und das mit Mitteln der Einschüchterung. Die Rute war ihm, was den Bullen ihre Knüppel waren. Meine Mutter hatte etwas gegen Bullen mit Knüppeln. Insofern war es nur konsequent, dass sie auch etwas gegen Nikolause mit Ruten hatte. Ihrer aber schien anders zu sein. Er konnte gut mit Kindern. Als könnte meine Mutter das beurteilen.

Sie wäre gern an einem schöneren Tag zurückgekehrt. Auf der Fahrt hat zwar zeitweise die Sonne geschienen, die Wolken waren als Fetzen durch den Himmel getrieben, haben sich dann aber, je näher sie diesem Ort kam, mehr und mehr
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