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Als schliefe sie

Als schliefe sie

Titel: Als schliefe sie
Autoren: Elias Khoury
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Licht… Sie bat, das Licht auszuschalten. Aber keiner hörte sie. Ihr Körper fing an zu zittern, so wie mein Körper jetzt zittert. Milia hat alles gesehen. Sie hat dich gesehen, Saada. Und sie hat den Teufel auf deiner rechten Schulter sitzen sehen. Raus hier! Ich will nicht sterben!«
    Milia versuchte die Augen zu öffnen. Da sah sie ihn. Ein Junge mit dunklem Teint und Lockenkopf sitzt unter ihrem Foto im Lîwân, betrachtet das halb verblichene Gesicht und füllt die Lücken zwischen den Worten mit kleiner Schrift. Im Schein des orangefarbenen Lichtes, das durch das Fenster hereinscheint, sitzt er mit einem Stift in der Hand da und schreibt. Wer er ist und warum er unter ihrem Foto sitzt, will sie ihn fragen und tritt näher an ihn heran. Sie trägt ein braunes Kleid, das bis über die Knie reicht. Sie schaut auf zu dem hohen Messingbett. Das kleine Mädchen schaut den Jungen an, der kaum vierzehn Jahre alt ist. Er geht zu dem Foto an der Wand und betrachtet den schwarz eingerahmten Spruch darunter. Der Spruch, geschrieben in Naskhi-Schrift, besteht aus zwei Zeilen mit einer Lücke dazwischen, die der Junge mit seinem Stift zu füllen versucht. »Sie ist nicht gestorben, sondern sie schläft.« Das junge Mädchen auf dem Foto hat die Augen geschlossen. Der Junge, der darunter sitzt, wird von seinem Vater zum Mittagessen gerufen. Mûsa betritt das Zimmer. Die Haare sind grau, die Augen von buschigen weißen Brauen überwuchert. Mûsa setzt sich neben den Jungen, der ihm ähnlich sieht, zeigt mit dem Finger auf den Satz unter dem Foto und liest leise. Milia kommt näher. Sie lauscht, hört aber nichts. Sie versucht die Geschichte zu lesen, die der Junge zwischen die Zeilen in Naskhi-Schrift schreibt, kann sie aber nicht entziffern. Sie beschließt, die Augen zu öffnen, um den Traum zu verlassen und in das Bett im Italienischen Krankenhaus zurückzukehren, wo ihr Sohn auf sie wartet. Sie lässt den Arm sinken. Ihre Hand stößt mit einer nassen Hand zusammen. Eine fremde Hand, die Milias Hand ergreift und anhebt. Eine Stimme, sie hört sich an wie die der Krankenschwester, sagt etwas. Milia aber versteht sie nicht.
    Milia sieht das Schaf. Ein kleines Schaf. Es entsteigt der Sonne, kommt auf sie zu, klettert auf ihre Brust, streckt die Zunge heraus. Es steht auf ihr, wie um sie zu umarmen. In seinen halb geschlossenen Augen glitzern Tränen. Milia versucht das Schaf ein wenig zur Seite zu schieben. Da reißt es die Augen auf. Was ist das für ein Geschrei? Tanjûs steht in dem das Zimmer durchflutenden orangefarbenen Licht. Sein schwarzes Gewand ist von Schlamm besudelt. Er tritt an das Bett heran, hebt die Hände zum Himmel und betet. Er öffnet den Mund, eine Art Weihrauch tritt aus.
    »Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, den du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht, zu erleuchten die Heiden und zum Preis deines Volkes Israel. 17 «
    Das orange Licht verfliegt, und Weiß breitet sich aus. Tanjûs verschmilzt mit dem Weiß. Er weicht zurück, verschwindet.
    Sie kenne die Geschichte jetzt, schreit Milia.
    Dort, als sie ihn ans Kreuz schlugen und ihm Essig zu trinken gaben, als sie ihn mit einer Lanze durchbohrten, als seine Mutter und seine Marien dastanden, die Gesichter von Nebel bedeckt, da schaute er hoch in Erwartung des Schafs. Das Schaf kam nicht. Seine Augen suchten den Vater. Der Vater kam nicht. Er schloss die Augen, um sich zu erinnern. Sein Gedächtnis aber ließ ihn im Stich, und er sah nichts als Weiß.
    Mûsa nimmt Milias Foto von der Wand, wickelt es in weißes Papier und legt es in die Schublade. Schwarze Punkte an der Wand markieren ein Bild, bestehend aus den Flächen zwischen Staubflecken. Der Junge mit den grünen Augen und dem kurzen schwarzen Lockenhaar nimmt einen Pinsel und weißt die Wand.
    Alles ist in Weiß gezeichnet. Weiß auf Weiß. Milia wälzt sich im Bett. Durst überkommt sie. Sie greift nach dem Wasser. Doch da ist kein Wasser. Sie hebt den Kopf, will ihn an die Wand lehnen. Doch da ist keine Wand. Das kleine Schaf stolziert über ihre Brust. Sie schließt die Augen und sieht. Die kleine, dunkle Milia beugt sich über die erwachsene, schmerzgequälte weiße Milia auf dem Krankenhausbett. Die kleine Milia beugt sich über die schwangere Frau, drückt ihr einen Kuss auf die kalte Stirn, nimmt ihre Hand und flüstert ihr ins Ohr, dass sie mitkommen soll.
    »Pressen!«, schreit der
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