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Als schliefe sie

Als schliefe sie

Titel: Als schliefe sie
Autoren: Elias Khoury
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Nazareth.
    Der Mönch Tanjûs stand vor ihr, die Hände ausgestreckt, wie um das Neugeborene aufzufangen.
    »Ich will nicht nach Jaffa. Ich will den Jungen nehmen und nach Beirut gehen. Bitte, Pater Tanjûs, sagen Sie meiner Mutter, dass sie kommen und mich holen soll. Nein, sagen Sie meinem Bruder Mûsa, dass er kommen soll, damit wir fliehen können.«
    »Der Herr, Friede sei mit ihm, ist aus freien Stücken in den Tod gegangen«, sagte Tanjûs, schlug das Buch auf und fing an zu lesen. Milia verstand die aramäischen Worte nicht, die der libanesische Mönch artikulierte. Dennoch sah sie ihn. Getrieben durch Jerusalems Straßen auf dem Weg nach Golgatha, ein schweres Holzkreuz tragend. Umringt von Soldaten, den Rücken von Peitschen zerfetzt, schleppt er sich vorwärts. Er schaut, nimmt nur eines wahr. Maria Magdalenas Gesicht. Es sieht aus wie das seiner Mutter. Er blickt in die Ferne und sieht Abraham. Abraham folgt seinem Sohn. Ergeben gebeugt, trägt Isaak auf dem Rücken das Brennholz, das der Vater für die Opferung zusammengesucht hat.
    »Wusste er, was sein Vater plante? Oder hat der Vater ihm die Wahrheit verheimlicht?«
    Diese Frage stellte Jesus von Nazareth seinem Vater Josef dem Zimmermann, als sie, wieder in Eintracht, beisammensaßen. Josef hatte ihm kurz zuvor gestanden, dass er ihn hatte töten wollen. Anfangs erbost, hatte Jesus sich schnell gefangen. Denn er sah ein, dass es Gottes Wille war.
    »Du bist also wie Abraham«, stellte Jesus fest. »Du wolltest mich umbringen, genau wie Abraham seinen Sohn töten und Gott als Opfer darbringen wollte.«
    »Kein Vater tötet seinen Sohn, mein Kind«, sagte Josef mit traurigen Augen. »Ich war verwirrt. Es war, als hätte mir eine schwarze Wolke die Sicht verdunkelt. Jetzt ist es vorbei. Du bist mein einziger Sohn. Wer tötet schon seinen einzigen Sohn?«
    »Und er?«
    »Ich weiß es nicht. Ich glaube, Abraham wusste nicht, dass es ein Schaf gab. Er hatte Gottes Befehl im Traum gehört, und ihm blieb nichts anderes übrig.«
    »Ich meine Isaak.«
    Nein, so ging die Geschichte nicht. Warum also schwebte Milia das Bild eines flüchtenden Vaters vor Augen? Pater Tanjûs hatte ihr die Geschichte anders erzählt. Warum sah sie den Sohn mit einem Messer in der Hand am Feuer stehen? Woher kam das Feuer? Maria erzitterte am Berg des Sprungs bei Nazareth. Sie hat kein Feuer gesehen. Sie sah ihn. Sah, wie sie Jesus ins Tal stoßen wollten. Sie stand da, vor ihr das Tal, und sie zitterte. Hier nun auf dem Platz vor der Kirche, der sogenannten Nôtre-Dame-de-l’Effroi-Kirche, drehte sich die schwangere Frau aus Beirut im Dunkeln um, und sie zitterte vor Kälte.
    »Warum kommst du im Nachthemd zur Kirche?«, fragte der Mönch Tanjûs.
    »Das ist mir gar nicht aufgefallen«, antwortete sie. »Ich schlafe, Pater, und träume. Das ist ein Traum, nicht die Wirklichkeit. Wie kommen Sie in meine Träume? Wenn ich jetzt die Augen öffne, finde ich mich zu Hause wieder, und Sie sind verschwunden.«
    »Nein, öffne die Augen nicht«, sagte Tanjûs. »Ich will dir etwas Wichtiges erzählen.«
    Der Mönch las die Geschichte von Khalîl, dem Freund des Allmächtigen, und seinem Sohn vor. »Weißt du, warum sich die Stadt im Süden Palästinas ›Stadt des Khalîl‹ nennt? Weil sich dort sein Grab befindet. Abraham hieß in Wirklichkeit Khalîl, weil er der Freund von Abu Îssa war.«
    »Wer ist Abu Îssa?«, fragte Milia.
    »Du liest wohl keine Bücher, mein Kind! Vielleicht kannst du es nicht wissen. Das ist ein Buch, das in fünfzig Jahren in Beirut geschrieben werden wird. Wie kannst du es also gelesen haben, wenn es noch gar nicht geschrieben ist?«
    »Und Sie? Wie konnten Sie etwas lesen, das noch nicht geschrieben ist?«
    »Weil ich in Augen lese. Du auch, Milia. Du wirst die Dinge lesen, bevor sie geschrieben sind. Du wirst sie lesen, wenn ein alter Mann an deinem Bett im Italienischen Krankenhaus steht und sagt: ›Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren.‹ 12 «
    »Heißt das, Sie werden sterben, wenn ich meinen Sohn zur Welt bringe?«
    »Nicht nur ich.«
    »Nein, ich will nicht, dass mein Sohn stirbt«, schrie Milia. »Kann das wirklich sein? Kann ein Vater wirklich seinen Sohn töten?«
    Der Mönch schlug das Buch auf und las:
    »Abraham fesselte seinen Sohn mit Seilen, stellte ihn vor den Holzstoß, setzte sich hin und wartete. Da blitzte am Himmel plötzlich ein Licht auf, und Abraham sah drei Engel, die einen weißen, gebadeten, wohlduftenden Bock
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