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Als gaebe es kein Gestern

Als gaebe es kein Gestern

Titel: Als gaebe es kein Gestern
Autoren: Kirsten Winkelmann
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wie sollte er eine Stunde überstehen, wenn er noch immer mit Schaudern an jene fünf Minuten zurückdachte, die er damals, als es ihr so schlecht gegangen war, allein mit ihr verbracht hatte?
    Er blieb stehen. Aber er konnte sich genauso wenig entschließen, einfach umzukehren.
    Aus einem kleinen Raum links von ihm trat eine Krankenschwester auf den Flur hinaus, warf ihm einen verwunderten Blick zu und wechselte dann in einen Raum auf der gegenüberliegenden Seite.
    Arvin rührte sich nicht. Die unterschiedlichsten Erinnerungen durchfluteten ihn. Bilder mit Livia aus glücklichen Zeiten. Livia ganz in Weiß mit ihrem strahlenden Lächeln und dem atemberaubenden Brautkleid. Ihre weiche Hand in seinem Nacken. Und dann genau das Gegenteil von alledem. Das zornige Funkeln in ihren Augen. Die –
    „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte eine Stimme von rechts.
    Arvin wandte den Kopf. „Äh … nein“, krächzte er und versuchte die unguten Erinnerungen einfach abzuschütteln.
    Die Krankenschwester von eben musterte Arvin und ließ ihren Blick einen Moment an seinem zerknitterten Oberhemd verweilen. „Sie finden Ihre Frau hinter der vorletzten Tür auf der linken Seite“, sagte sie.
    Ich finde meine Frau nirgends mehr , dachte Arvin, sprach es aber nicht aus.
    Dennoch stimmte es. In gewisser Weise gab es Livia nicht mehr. Er konnte sie weder lieben noch hassen. Und darum wusste er nicht, was er hier sollte. „Danke“, presste er hervor und setzte sich in Bewegung. Es hatte ohnehin keinen Zweck, so lange mit sich zu ringen. Karen hatte recht. Das Verantwortungsgefühl war stärker als seine Abwehr.
    Wenig später öffnete er die Tür zu ihrem Krankenzimmer. Sofort schlug ihm der intensive Duft eines Blumenmeeres entgegen. Er hielt den Atem an und bekam ein schlechtes Gewissen. An Blumen hatte er heute gar nicht gedacht …
    „Arvin ist hier“, kündigte er seinen Besuch an, noch bevor er Livia sehen konnte.
    Er bekam keine Antwort.
    „Ich bin es – Arvin“, probierte er es noch einmal. Aber als er gleich darauf das ganze Zimmer in sein Blickfeld bekam, fand er es leer vor. Sie lag nicht in ihrem Bett. Stattdessen blickte der kleine Teddybär, den Vanessa ihr geschenkt hatte, aus großen Knopfaugen zu ihm herauf.
    „Hm“, machte er verwundert. Dann beugte er sich in die Tiefe und sah unter dem Bett nach. Karen hatte ihm erzählt, dass Livia immer dann, wenn es ihr nicht gut ging, Zuflucht unter ihrem Bett suchte. Aber dieses Mal nicht. Dieses Mal war niemand dort. Er richtete sich wieder auf und drehte sich um. Die Tür zum Badezimmer war geschlossen.
    Livia , wollte er rufen, biss sich aber gerade noch auf die Zunge. Hatte ihm Karen nicht eingeschärft, dass sie förmlich ausrastete, wenn jemand sie mit diesem Namen ansprach? Er verzog das Gesicht. Er konnte ja schlecht „Karen“ rufen, oder?
    Um das Problem zu umgehen, ging er bis zur Badezimmertür und klopfte. „Arvin ist hier“, sagte er erneut, aber auch jetzt erhielt er keine Antwort.
    Er seufzte tief, klopfte ein weiteres Mal und rief ein wenig zaghaft: „Karen?“ Aber auch das half rein gar nichts.
    „Karen?“, rief er lauter. Nichts. Kein einziges Geräusch. Er streckte seine Hand aus und drückte vorsichtig die Klinke hinunter. Dann schob er die Tür auf. Das Badezimmer war leer.
    Arvin runzelte die Stirn. Hatte Karen ihm nicht erzählt, dass sie ihr Zimmer niemals allein verließ? Einen Moment verlagerte er sein Gewicht unentschlossen von einem Bein aufs andere. Dann machte er sich auf die Suche nach der Krankenschwester von vorhin. Er fand sie auf dem Flur, wo sie gerade volle Wasserflaschen gegen leere austauschte und auf einem Rollwagen platzierte.
    „Entschuldigung“, sprach er sie an.
    Die junge Frau schenkte ihm sofort ihre gesamte Aufmerksamkeit. Sie war eine hübsche Person mit einem blonden Pferdeschwanz. „Brauchen Sie irgendetwas?“, erkundigte sie sich freundlich.
    „Ich finde meine Frau nicht“, entgegnete Arvin.
    Die Krankenschwester warf ihm einen mitleidigen Blick zu. „Die vorletzte Tür auf der linken Seite. Sagte ich das nicht?“
    „Sie ist nicht dort.“
    Die Krankenschwester seufzte tief. Wahrscheinlich ging sie davon aus, einen Vollidioten vor sich zu haben. Sie schob die Kiste mit den leeren Wasserflaschen, die zu ihren Füßen stand, mit einem schabenden Geräusch so an die Seite, dass niemand darüberstolpern konnte. „Dann kommen Sie mal mit, Herr Scholl.“ Ihre Worte klangen gönnerhaft.
    Arvin
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