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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann
Autoren: L Murray
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Küchentür zu setzen, wenn sie sich dorthin zurückzogen.
    Irgendwann ließen sie die Tür offen stehen.
    Als ich fünf Jahre alt war, waren wir zu einer ganz normalen, vom Staat abhängigen vierköpfigen Familie geworden. Der Erste des Monats, der Tag, an dem Mas Bezüge von der Sozialhilfe fällig waren, beinhaltete all die Rituale und Feierlichkeiten eines Weihnachtsmorgens. Unsere gemeinsame Vorfreude auf das Geld erfüllte die Wohnung mit einer Art elektrischer Spannung, die dafür sorgte, dass Ma und Daddy wenigstens für vierundzwanzig Stunden eines jeden Monats umgänglich und aufgekratzt waren. Das war die einzige Übereinstimmung meiner Eltern.
    Der Staat gab die paar hundert Dollar an diejenigen, die aus dem einen oder anderen Grund nicht in der Lage waren zu arbeiten
– obwohl ich unsere körperlich gesunden Nachbarn oft zusammengerottet neben den Briefkästen beobachtete, die erwartungsvoll zusahen, wie sie mit den dünnen, blauen Umschlägen gefüttert wurden. Ma, die ganz offiziell aufgrund einer angeborenen Augenkrankheit als blind galt, war zufällig eine der wenigen rechtmäßigen Empfänger des Sozialhilfezuschusses für Behinderte. Das weiß ich, weil ich dabei war, als sie zu den Aufnahmekriterien befragt wurde.
    Die Frau hinter dem Schreibtisch sagte ihr, sie sei so blind, dass sie, sollte sie jemals ein Auto fahren, »wahrscheinlich allen Lebewesen, die ihren Weg kreuzen, das Leben nehmen würde«.
    Dann schüttelte sie Mas Hand und beglückwünschte sie zu ihrer Berechtigung und zu ihrer Fähigkeit, erfolgreich eine Straße zu überqueren.
    »Unterschreiben Sie bitte hier. Ihre Schecks dürfen Sie zu jedem Ersten des Monats erwarten.«
    Und das taten wir. Tatsächlich erwartete unsere Familie nichts so sehr wie Mas Scheck. Das Auftauchen des Postboten löste einen Dominoeffekt aus und setzte den gesamten Tagesablauf und unser über alles geschätztes Ritual in Gang. Meine Aufgabe war es, mich aus meinem Kinderzimmerfenster zu lehnen, das nach vorn rausging, und das Auftauchen des Postboten lautstark Ma und Daddy zu verkünden.
    »Lizzy, sag Bescheid, sobald du auch nur irgendwas von ihm siehst. Denk daran, schau nach links .«
    Wenn Ma nur ein paar Minuten früher über sein Kommen informiert war, konnte sie die Krimskramsschublade nach ihrem Berechtigungsausweis durchwühlen, ihren Scheck aus dem Briefkasten fischen und als Erste in der Schlange vor dem Auszahlungsschalter stehen. Die Rolle, die ich an diesen Tagen innehatte, wurde zu einem unschätzbaren Bestandteil im Ablauf des Routineprogramms.
    Mit nach hinten gestreckten Ellbogen umklammerte ich die verrostete Schutzvorrichtung am Fenster und reckte wiederholte
Male den ganzen Vormittag lang meinen Hals so weit wie möglich in die Sommersonne. Die Aufgabe gab mir ein Gefühl von Wichtigkeit. Erblickte ich die blaue Uniform, die über den Hügel kam – ein städtischer Nikolaus, der den dazu passenden Karren schob –, konnte ich es kaum erwarten, ihn anzukündigen. In der Zwischenzeit hörte ich meinen Eltern beim Warten zu.
    Ma, die in ihrem überdimensionierten Sorgenstuhl saß und die gelbe Polsterung herauszupfte.
    »Verdammt. Verdammt! Das Arschloch lässt sich Zeit. Verdammt. «
    Daddy, der ihre Planung zum hundertsten Mal durchging, dabei auf- und abmarschierte und Kreise in die Luft malte, als könne er so die gefühlte Wartezeit verkürzen.
    »Okay, Jeanie, wir machen einen kleinen Zwischenstopp, um Koks zu kaufen, dann kümmern wir uns um die Stromrechnung. Dann kaufen wir zweihundert Gramm Fleischwurst für die Kinder. Und ich brauche Geld für Token.«
    In dem Moment, in dem ich den Postboten erblickte, konnte ich es ihnen in derselben Sekunde sagen, oder ich wartete ein kleines bisschen länger. Es war der kleine Unterschied, ihre ganze Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen oder sie zu verlieren – der Verzicht auf diesen einzigen Moment, in dem ich genauso bedeutsam war wie sie, genauso wichtig wie der Postbote oder sogar das Geld selbst. Aber ich konnte mich nie bremsen; in dem Moment, in dem ich ihn um die Ecke kommen sah, rief ich: »Er kommt! Ich kann ihn sehen! Er kommt!« Und so konnten wir alle in die nächste Phase unseres Tagesablaufs eintreten.

    Hinter der grell bunten Glasfassade des Auszahlungsbüros gab es Attraktionen für jedes Alter. Kinder zog es an die Quarter-Automaten, nebeneinander aufgereihte gläserne Kästen auf Metallstangen, vollgestopft mit allem möglichen Spielzeug. Sie warteten
ungeduldig auf
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