Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann
Autoren: L Murray
Vom Netzwerk:
Walnuss-Brownies in bunten Keksdosen, die wir in einem wackeligen Stapel sammelten. Höfliche kurze Mitteilungen in sauberer Handschrift – die Ma sich nie die Mühe machte zu lesen – waren an die obere Kartonlasche geheftet, manchmal zusammen mit einem druckfrischen, sorgfältig hineingeklebten Fünfdollarschein.
    Die Mitteilungen schmiss sie in den Müll, aber das Geld bewahrte sie, mit einem Gummi zusammengehalten, in einer kleinen roten Schachtel auf der Frisierkommode auf. Wann immer das Bündel dick genug war, führte sie uns auf ein Happy Meal zu McDonald’s aus. Sie selbst gönnte sich ein paar Schachteln Zigaretten der Marke Winston, Bier in schlanken, dunklen Flaschen und Münsterkäse.
    Als ich drei Jahre alt war, breitete Daddy seine Entlassungspapiere fächerförmig neben mir auf der extragroßen Matratze im Schlafzimmer meiner Eltern aus. Ich blickte auf, erstaunt über eine männliche Stimme in der Wohnung, über die Art, wie Ma behutsam im Licht der Nachmittagssonne um ihn herumtänzelte. Seine Bewegungen waren schnell und ungeduldig, was es erschwerte, sich auf seinen Gesichtsausdruck zu konzentrieren.
    »Ich bin dein Va-ter« , kam es laut und überdeutlich unter seiner Zeitungsverkäufermütze hervor, als ob seine Ernsthaftigkeit mein Verstehen beeinflussen sollte.
    Stattdessen versteckte ich mich hinter den Beinen meiner Mutter
und weinte leise vor lauter Verwirrung. An diesem Tag verbrachte ich den Abend allein in meinem eigenen Bett statt an Mas Seite. Meine Eltern, zum ersten Mal in meinem Leben vereint, waren nichts als ein Wirrwarr aus Stimmen, die durch die dicke Tür, die unsere Zimmer voneinander trennte, unvorhersehbar lauter und dann wieder leiser wurden.
    In den folgenden Monaten sah Ma die Dinge immer lockerer. Der Haushalt wurde vernachlässigt; dreckige Teller stapelten sich tagelang in der Spüle. Sie ging seltener mit uns in den Park. Stundenlang wartete ich zu Hause darauf, in Mas Aktivitäten eingebunden zu werden, und ich konnte nicht begreifen, warum ich nicht länger Teil davon war. Und weil ich mich durch diese Veränderungen zurückgesetzt fühlte, wollte ich unbedingt meinen Weg zu ihr zurückfinden.
    Ich begriff, dass Ma und Daddy seltsame Angewohnheiten teilten, deren gesamtes Ausmaß vor mir geheim gehalten wurde. Wie in hektischer Vorbereitung zu einer Art Zeremonie breiteten sie Löffel und andere Objekte auf dem Küchentisch aus. Bei dieser Vorführung tauschten sie sich in schnellen, kurzen Kommandos aus. Wasser wurde benötigt – eine kleine Menge aus dem Hahn –, dazu Schnürsenkel und Gürtel. Ich durfte sie auf keinen Fall stören, aber ihr geschäftiges Treiben aus der Ferne zu beobachten war erlaubt. Ich sah oft von der Tür aus zu und versuchte, die Bedeutung hinter ihrem Tun zu begreifen. Aber jedes Mal, wenn Ma und Daddy damit fertig waren, die komischen Sachen auf dem Tisch zu verteilen, genau dann stand einer der beiden in der allerletzten Minute auf und schloss die Küchentür, sodass ich nichts mehr mitbekam.
    All das blieb rätselhaft für mich, bis ich mich an einem Sommerabend selbst in meinem Kinderwagen (den ich benutzen würde, bis er unter meinem Gewicht zusammenbrach) vor der Küchentür parkte. Als mir die Tür wieder vor der Nase zugemacht wurde, rührte ich mich nicht vom Fleck, sondern blieb, wo ich war, und wartete. Ich beobachtete Küchenschaben, die sich unter
der Türritze hinein- und hinausschlängelten – unsere neuesten Mitbewohner, da Ma aufgehört hatte, regelmäßig zu putzen –, während eine Minute nach der anderen vorbeikroch. Als Ma endlich wiederauftauchte, war ihr Gesicht verkrampft, und sie kniff die Lippen zusammen.
    Mit sicherem Gespür dafür, dass sie fertig waren, sagte ich etwas, was man mir noch jahrelang als Anekdote erzählen würde.
    Ich hob meine Arme und gab einen Singsang zum Besten: »Al-les fer-tig!«
    Völlig überrumpelt blieb Ma stehen, beugte sich zu mir herab und fragte mich ungläubig: »Was hast du gesagt, mein Schatz?«
    »Al-les fer-tig!«, wiederholte ich, hocherfreut über Mas plötzliches Interesse an mir.
    Sie rief nach Daddy. »Peter, sie weiß Bescheid! Sieh sie dir an, sie versteht alles!«
    Er lachte kurz amüsiert auf und kümmerte sich wieder um seinen Kram. Ma blieb an meiner Seite und strich mir übers Haar. »Ach, mein Schatz, was weißt du schon?«
    Außer mir vor Freude, dass ich meinen Platz in ihrem Spiel gefunden hatte, machte ich es mir zur Gewohnheit, mich jedes Mal vor die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher