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Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman

Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman

Titel: Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman
Autoren: Caroline Vermalle
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Lichterkette, die die Insel begrenzte. Schließlich begann Marcel zu frieren. Doch das war nicht schlimm. Es dauerte nicht lange, bis die anstrengenden, monotonen Bewegungen an seinen Kräften zehrten. Doch auch das war nicht schlimm. Als die Kälte in seinen Körper kroch, begann er zu zittern. Doch, so sagte Marcel sich, auch das war nicht schlimm. Nicht schlimm die stechenden Schmerzen in den Knien, nicht schlimm die brennende Lunge, nicht schlimm das Salzwasser in der Kehle, das ihm beinahe die Luft abschnürte. Als das Meer nach sechs Stunden in Wallung geriet, kam die Angst. Und das war nicht schlimm, sondern verhängnisvoll.
    Hatte er die Hälfte geschafft? Oder war es weniger?Würde er ans Ziel kommen? An manchen Tagen hatte er viel weitere Strecken zurückgelegt als heute, aber heute war er allein und erschöpft. Er musste sein Ziel um jeden Preis erreichen. Wenn er es nicht schaffte, würde er sterben. Allein mitten im Atlantik. Aber wie sollte es ihm gelingen, das Ziel zu erreichen? Sein Körper hatte alles gegeben, und er war immerhin schon sehr alt. Die Fähren, die zur Insel fuhren, konnten ihm mit Sicherheit auch nicht helfen – ganz im Gegenteil. Diese stählernen Kolosse, die das Meer lärmend teilten und es mit dem schäumenden Kielwasser aufwirbelten, bedeuteten für ihn den sicheren Tod, wenn er sich ihnen zu sehr näherte. Ein Fischerboot vielleicht? Marcel hatte heute noch nicht viele gesehen. Und im Augenblick sah er ringsherum gar nichts. Weder die Sonne noch die Insel und nicht einmal das Meer. Graue Wolken zogen über ihn hinweg. Er hatte Skiron gar nicht bemerkt, diesen starken Wind, doch jetzt spürte er all seine wütenden Helfer, diese Wogen, die unablässig an ihm vorbeimarschierten und denen er hilflos ausgeliefert war. Und für Marcel begann inmitten des Wellenmeers ein ständiges Auf und Ab. Wenn ihn eine Welle in die Höhe hob, blickte er wie von einem Wachturm aus auf die stürmische See. Und wenn er wieder in die Wellentäler sank, schauten die riesigen, grünlichen Bestien auf ihn herab und erinnerten ihn an die Bedeutungslosigkeit des Menschen in dieser chaotischen Unendlichkeit.
    Und allmählich erschien Marcel der Tod natürlich und unausweichlich. Er spürte seine weißen, schäumenden Finger, die ihn berührten. Also hörte er auf zu zitternund betrachtete diesen grünen Fluss des Untergangs, diese Wasserwüste und den Himmel. Ruhe und Gelassenheit erfüllten ihn. Er war bereit.
    Und hinter einer riesigen, schwarzen Brandungswelle sah er sie plötzlich. Die fliehenden Gestalten, die ihn seit tausend Kilometern verfolgten, wenn nicht seit jeher. Sie waren es. Jetzt erkannte er sie endlich. Ebenfalls vollkommen durchnässt und am Ende ihrer Kräfte standen sie vor ihm. Während sein Leben an einem seidenen Faden hing und er in diesem aufgewühlten Meer hin und her geworfen wurde, schaute Marcel ihnen ins Gesicht.

51
    »Madame Verbowitz, Madame Verbowitz!«, schrie Madame Tricot, die geschminkte Nachbarin mit der Dauerwelle. Sie lief in ihren neuen, hohen Schuhen unsicheren Schrittes durch den Garten. Zuerst erblickte sie den kleinen Conrad auf seinem Dreirad. Offenbar waren die Enkelkinder von Madame Verbowitz inzwischen eingetroffen.
    »Sag deiner Großmutter, dass sie sofort kommen muss«, sagte sie zu ihm. Der Kleine begann zu schreien, und seine große Schwester stimmte mit ein: »Oma! Oma!« Und die Nachbarin schrie: »Madame Veeerbooowiiitz!«
    »Ja, ja, ich komm ja schon. Was ist denn los?«, rief Nane, die langsam hinter dem Laubengang hervortrat.
    »Madame Verbowitz«, sagte Madame Tricot atemlos und sichtlich in Panik. »Warum gehen Sie nicht ans Telefon? Sie haben den Mann Ihrer Cousine gefunden. O mein Gott!«
    »Wo? Wo haben sie ihn gefunden?«, fragte Nane.
    »Am Hafen. Er ist in einem entsetzlichen Zustand. Sie haben ihn ins Krankenhaus Dumonté gebracht. Wissen Sie, wo das ist?«
    »Lebt er noch oder ist er tot?«
    »Ich weiß nicht genau, aber soviel ich gehört habe, ist er mehr tot als lebendig.«
    »So ein verflixter Mist! Sagen Sie, Madame Tricot, könnten Sie wohl auf die Kinder aufpassen? Arminda ist bei ihrem Fischhändler und ...«
    »Oh, das würde ich ja wirklich sehr gern, Sie Ärmste«, erwiderte Madame Tricot ganz aufgelöst. »Aber Bernard und ich wollen in einer Stunde die Fähre nehmen. Wir sind bei meiner Schwägerin in Saint-Gilles eingeladen. Durch die ganze Aufregung bin ich sowieso schon spät dran. Oje, oje, ich bin völlig
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