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Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman

Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman

Titel: Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman
Autoren: Caroline Vermalle
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Momenten immer begleitet hatte, war verstummt. Seit dem frühen Morgen spazierte sie wie ein Waisenkind über die Insel, erfüllt von einer beschaulichen Ruhe. Seit diesem Morgen herrschte Stille in ihrem Innern. Sie betrachtete den Horizont und spürte im Magen wieder dieses Gefühl der Leere. Es war Hunger. Ein leichtes Hungergefühl, das ihr fast wie ein Wunder erschien.
    Jacqueline legte sich ins Gras. Ja, sie legte sich ins Gras. Ohne lange zu überlegen und ohne dass das Alter Einwände erhob. Dann legte sie den Strohhut auf die Augen.Die Sonne drang durch die kleinen Löcher darin. Tausende verschwommener, kleiner Lichter erhellten Dinge aus der Vergangenheit. Unvergessliche, nie erlebte Augenblicke, geträumte Erinnerungen an die Zeit vor ihrem siebzehnten Lebensjahr. Tränen, die sie sich vielleicht nur einbildete, vervielfachten die winzigen Lichter bis insUnendliche, und sie sah ihre ganze Jugend in der Sonne. Die glückliche Zweisamkeit mit Paul und die kurze Zeit ihrer zärtlichen Liebe rollten über ihre Wangen. Die unzähligen Versprechen, die lange Zeit viel zu groß gewesen waren, gesellten sich zu dem Kaleidoskop. Hinzu kamen die Wellen, die sich an den Felsen brachen, der Duft der trockenen Erde und das Leben umgeben von Gärten ohne Nachbarn, das auf sie wartete, und alles wurde klar. Jacqueline nahm den Strohhut von den Augen und stand mühsam auf.
    Jetzt wusste sie es. Jacqueline Darginay de Boislahire hatte es in dem Orakel des Strohhutes gesehen. Die alte Dame auf den erhabenen Felsen, auf denen es bald zu warm wurde, begann zu lächeln. Zum ersten Mal sah sie diese Insel als eine Möglichkeit an. Es wäre dann nicht mehr Nanes Insel, sondern ihre. An island of one’s own .
    Doch eine Sache musste sie noch hinter sich bringen. Ein letztes Mal musste die leise Stimme sprechen. Jacqueline stieg zu der kleinen Kapelle hinauf, und ich begleitete sie. Sie hatte sie immer von weitem gesehen, diese Kapelle, die reglos an der verlassenen Küste stand und das glitzernde Wasser überragte. Weiß und schlicht wie die Braut, die sie sein wollte, und von allem befreit, sah die Kapelle aus, als würde sie das Wesentliche verstehen. Wir traten gemeinsam ein. Jacqueline hatte Stille erwartet, doch in der Kapelle hallten alle Geräusche der Insel wider. Apeliotes, der draußen nicht mit den Menschen sprach, wurde mitteilsam, als er sich zwischen den weißen Mauern versteckte – ein unsichtbarer Orgelspieler. Jacqueline blieb in der Nähe der Tür stehen und wagte es nicht weiterzugehen. Sie sah das kleine Modell des Segelschiffes, den verwelkten Blumenstrauß auf dem Altar. In einer Nische ein blaues Windlicht. Die Schreie der Möwen, und bald würde man auch die Schreie der Kinder, das Knattern der Motorroller, den Lärm des Hafens und die Geräusche der Insel hören. Und inmitten des Königreiches des Windes und der leeren Bänke die strahlende Jungfrau Maria, angemalt wie eine Geisha, mit dem kleinen Jesuskind. Die Jungfrau der Zärtlichkeit und der verschollenen Seefahrer.
    Jacqueline schaute in die Augen aus Alabaster und setzte sich auf eine Bank. Und dann flüsterte die Stimme, die schon bald verstummen würde:
    Auf Wiedersehen, mein kleiner Engel. Ich habe dich sechsundfünfzig Jahre und einige Nächte dazu in meinem Herzen getragen. Jetzt wird es Zeit, dass ich dich loslasse. Ich habe einen schönen Ort für dich ausgewählt. Du wirst dich wohlfühlen auf dieser Insel, auf der man zu traurigen Liedern lacht und wo der Wind dafür sorgt, dass auf den Felsen niemals Stille eintritt. Die Jungfrau Maria wird dich in ihre nach Meer duftenden Arme schließen und dich in ihre Hut nehmen. Sie hat schon das kleine Jesuskind, aber sie wird dich ebenso lieben wie ich, mein Liebling, mein unsichtbares Kind. Auf Wiedersehen, mein Kleines, ich lasse dich hier zurück, wo du aufs Meer schauen kannst. Heute musst du mich verlassen, damit ich das Versprechen einlösen kann, das ich gestern gegeben habe. Gestern, als ich siebzehn Jahre alt war.
    Ein paar Tage später schloss Jacqueline leise die Tür des Gartenhauses, wo nun alles wieder so sein würde wie vor ihrer Ankunft. Schatten, die auf die Bodenplatten fielen; Spinnen, die sich in den Ecken vermehrten; Bügel, die gegen die Rückwand des alten Kleiderschrankes schlugen, und die alte, bestickte Bettwäsche, die in Vergessenheit geriet. Wie die abgestreifte Haut einer Natter ließ Jacqueline ihre Erinnerungen in der Villa Jolie Fleur zurück. Sie würde nie
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