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Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Titel: Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
Autoren: Michail Gorbatschow
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so begrüßen, dass wir es nie vergessen würden. Und da Irina und die Kinder noch nie in Paris waren, hatten wir vor, das Jahr 2000 auf den Champs-Élysées in dieser wunderbarsten Stadt der Welt zu begrüßen.
    Darauf freuten wir uns, bis uns dieser schreckliche Verlust traf. Und trotzdem bin ich mit den Mädchen nach Paris gefahren, ihr Weihnachtsgeschenk von Raissa.
     
    Heute waren wir auf dem Neujungfrauenfriedhof. Wir haben viele Blumen mitgebracht – Vorweihnachtszeit. In der Nacht ist Schnee gefallen. Ich habe Raissas Lieblingsblumen mitgebracht: rote Rosen. Ein unvergessliches Bild: die roten Rosen auf dem blütenweißen Schnee. Auf der Grabplatte.
    Als wir zurückkamen, haben wir uns an den Tisch gesetzt. An der Wand ein großes Porträt von ihr, im Zimmer Blumen, brennende Kerzen, der geschmückte Weihnachtsbaum und der Duft von Nadelholz. Auf dem Tisch alles, womit sie uns immer verwöhnte. Kurz: eine russische Tafel mit sibirischem Anstrich in Gestalt von Pelmeni und der Torte namens »Avantgarde«, die in der Kreml-Konditorei zubereitet wurde und deren Name von Raissa stammt. Wir hoben die Gläser und standen schweigend da …
    Mit Irina, Anastasia und Xenia, 2009
    Quelle: A. Trukhachew
    Nach dem Abendessen ging ich nach oben in mein Arbeitszimmer. Ich machte kein Licht und stand am Fenster. Das von Laternen beleuchtete Datschengrundstück, der dichte russische Wald und der unentwegt fallende Schnee – ich kam mir vor, als säße ich im Bolschoj-Theater, im
Nussknacker
. Wir hatten eine Familientradition, nach der wir jedes Jahr an Silvester ins Bolschoj-Theater gingen. Wir schauten uns den
Nussknacker
an, und wenn wir nach Hause kamen, feierten wir den Ausklang des alten Jahres und verteilten die Geschenke, die Väterchen Frost trotz der erhöhten Sicherheitsstufe in die Präsidentenvilla geschleust und uns unter den Weihnachtsbaum gelegt hatte. Musik, fröhliches Beisammensein …
    All das sind nun Erinnerungen an ein vergangenes Leben, an die Zeit, da wir alle noch zusammen waren.
    Raissa liebte den russischen Winter, besonders wenn es ordentlich stürmte und schneite. So war es schon, als wir noch in der Region Stawropol wohnten, wo wir uns sogar einmal bei einem Schneetreiben verirrt haben. Und so war es auch in Moskau. Raissa stammt aus dem Altai-Gebirge und wuchs in Sibirien auf. Ein paar Jahre lebte die Eisenbahnbauer-Familie auch im Nordural in der Taiga.
    Oft erzählte sie von Schlittenfahrten, bei denen die drei Kinder Raissa, Shenja und Ljudotschka in Pelzmäntel eingepackt an einen neuen Wohnort gebracht wurden. An Winterabenden war es in den Familien Brauch, die berühmten Pelmeni zu kneten, sibirische Teigtaschen, die man einfror und in einem Sack an der eiskalten Luft aufbewahrte. Pelmeni, das war Raissas Leibgericht.
    Wieder komme ich auf ihre letzten Tage zurück. Tapfer kämpfte sie um ihr Leben und ertrug geduldig alles, was die Ärzte mit ihr anstellten. Es war eine Qual, das mit ansehen zu müssen. In Minuten der Verzweiflung suchte sie in meinen Augen und in denen ihrer Tochter nach einer Antwort auf die Frage, wie es mit ihr weitergehen würde.
    Als Raissa am 19 . Juli nach der Diagnose ins Krankenzimmer gebracht wurde, ging ich zu ihr. Sie schaute mir in die Augen und fragte: »Was haben die Ärzte gesagt?«
    Vorsichtig sagte ich: »Sie sagen, es handle sich um eine akute Blutkrankheit.«
    »Ist das das Ende?«, fragte sie.
    »Nein. Wir haben beschlossen, morgen mit dir nach Deutschland zu fliegen, wo man zusätzliche Untersuchungen vornehmen wird, um sich ein genaues Bild von der Krankheit zu verschaffen. Dort wird auch entschieden, wie sie zu heilen ist.«
    Wir flogen nach Münster mit der Hoffnung auf Raissas Genesung. Am 21 . September mussten wir mit der toten Raissa zurückkehren.
     
    Ich beschloss, ein Buch über unser Leben zu schreiben. Das hatte ich schon lange vor, brachte es aber nicht fertig. Dieses Buch ist mir schwergefallen. Ich stand die ganze Zeit unter dem Eindruck des mit Rotstift geschriebenen Titels, den Raissa ihrem Buch geben wollte:
Was mir auf der Seele liegt
.
    Meine Erinnerungen widme ich dem Andenken an Raissa.
    Mit Raissa, 1986

Vorbemerkung
    Dieses Buch ist anders als alle Bücher, die ich bisher verfasst habe. Es gibt keine feste Struktur, es handelt sich um keine Memoiren im eigentlichen Sinne, sondern einfach um meine Sicht unseres Lebens.
    Diejenigen, die ich gebeten habe, dieses Buch zu lesen und zu beurteilen, haben gesagt, es
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