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Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Titel: Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
Autoren: Michail Gorbatschow
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Krankenhäuser auf dem Land mit je fünf Betten, fünf Mittelschulen, 313  Schulen mit nur einer Klasse und drei Buchhandlungen, die alle in der Stadt Stawropol ansässig waren.
    Vorherrschend war die Landwirtschaft: Ackerbau, Vieh- und Schafzucht. Die landwirtschaftlichen Erzeugnisse waren zum Export bestimmt: nach Petersburg, Moskau und Paris. An Industrie gab es: Müllerei- und Wachsbetriebe (die auch Kerzen herstellten), Buttereien, Schnapsbrennereien, Ledergerbereien, Ziegeleien, kurz: alles, was charakteristisch für ein ländliches Gouvernement ist.
    Die soziale Schichtung war charakteristisch für die Provinz jener Zeit: eine recht große Zahl von Adligen, Großgrundbesitzer, Geistliche, Kaufleute und Händler, Kleinbürger (Angestellte, Beamte, Hausbesitzer); die Bauernschaft (mit Ländereien einer Ausdehnung von 2 bis 5  Desjatinen [2] ) stellte 90  Prozent der Bevölkerung; hinzu kamen Arbeiter unterschiedlicher Art (darunter viele Tagelöhner) und arme Leute ohne bestimmte Beschäftigung. So sah das Gouvernement Stawropol vor dem Ersten Weltkrieg und der Revolution von 1917 aus.
    Die Geschichte dieses Landstrichs ist reich an Ereignissen. Über einige sind bis heute Legenden im Umlauf. Mit der Zeit erfuhr ich, dass 25 der Offiziere, die 1825 am Dezemberaufstand gegen den Zaren teilgenommen hatten, hierhin verbannt worden waren. Das Leben vieler von ihnen endete während der Kaukasuskriege in den zahllosen Zusammenstößen mit den Bergbewohnern. Unter den Verbannten war auch der Dichter Alexander Odojewskij, der Verfasser einer in Versform gefassten Antwort auf Puschkins Sendschreiben an die Dekabristen, das die berühmte Zeile enthält: »Der Funken wird zu einer Flamme.«
    Im Lermontow-Museum in Pjatigorsk ist ein Tagebuch Odojewskijs ausgestellt. Auf den vergilbten Seiten begegnet man Namen, die einem aus der Schule bekannt sind. Hier freundete sich Odojewskij mit Lermontow an und traf Ogarjow, den Freund Alexander Herzens. Und als ich in einem Lehrbuch las, »die Dekabristen haben Herzen aufgerüttelt«, erschien mir das wie eine lebendige Verbindung zu den früheren mir bekannten und vertrauten Menschen meiner Heimat.
    Wie der Fluss nach dem Frühjahrshochwasser große und kleine Seen an den Ufern zurücklässt, so haben auch die Umsiedlungen und Wanderungen verschiedener Völker in den Steppen und Vorgebirgen des Stawropoler Landes viele Spuren hinterlassen. Neben russischen Namen begegnet man immer wieder Namen wie Antusta, Dshalga und Tachta, die mongolischen Ursprungs sind, oder Atschikulak und Arsgir, die turksprachig sind.
    Eine solche Mischung von Ethnien auf kleinem Raum, einen solchen Reichtum von Sprachen, Kulturen und Religionen haben nur wenige Regionen der Welt aufzuweisen. Außer den Russen, die 83  Prozent ausmachten, lebten im Stawropoler Land zu meiner Zeit Karatschaier, Tscherkessen, Abasinzen, Nogaier, Osseten, Griechen, Armenier und Turkmenen. Es ist unmöglich, alle aufzuzählen. Und jedes Volk bringt nicht nur seine Sprache, sondern seine Bräuche, Sitten und Trachten mit, ja sogar seine jeweilige Gestaltung und Aufteilung des Hofs.
    Heute sehen die Siedlungen ganz anders aus, sie sind einheitlicher geworden. Aber noch Anfang des 20 . Jahrhunderts konnte man den typischen kaukasischen Aul der Bergbewohner antreffen und daneben eine Kosakensiedlung oder ein russisches Dorf mit Samankaten unter einem Stroh- oder Schilfdach. Und um jede Kate zog sich ein Zaun, geflochten aus den Ruten junger Bäume. Ich verstand mich damals auch nicht schlecht auf diese Flechtkunst, und genauso wusste ich, wie man ein Dach deckt und mit welcher Lösung man das Stroh begießen muss, damit die Vögel es nicht rauben.
    Die Bewohner des Landstrichs sind gesellig und kompromissbereit. Das Auskommen mit Menschen verschiedener Ethnien war ja die wichtigste Voraussetzung für ein Überleben im Nordkaukasus. Sich in einem mehrsprachigen, multikulturellen Milieu bewegen zu müssen, erzog zu Toleranz und einem respektvollen Umgang miteinander. Wenn man einen Bergbewohner beleidigte oder kränkte, hatte man sich einen Todfeind gemacht. Respekt vor der Würde und den Bräuchen eines Bergbewohners hieß, einen treuen Freund gewonnen zu haben. Ich hatte eine Vielzahl solcher Freunde, denn schon damals kam ich, ohne entsprechende hochtrabende Worte zu kennen, immer mehr zu der Einsicht, dass nur Toleranz und Eintracht den Frieden zwischen den Menschen sicherstellen können.
    Hier in meiner Heimat bekam ich den
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