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Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Titel: Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
Autoren: Michail Gorbatschow
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alles vorgekommen! Ihr ganzes Leben blieb ich der Lieblingsenkel.
    Krieg
    Ende der dreißiger Jahre bürgerte es sich ein, dass man an Sonn- und Feiertagen in den Waldgürtel der Steppe ging, um sich zu erholen. Ganze Familien zogen los, auf Pferden, Stieren oder, wenn es nicht weit war, zu Fuß. Allen gefiel das friedliche Leben. Die Kinder spielten Schlagball, warfen Stöcke in die Luft, die man auffangen musste, oder jagten hinter einem selbstgebastelten Ball hinterher. Die Mütter schwatzten und klatschten. Die Väter besprachen ihre »Männer«-Probleme. Dabei wurde getrunken und gesungen. Und wenn einer zu viel getrunken hatte und außer sich geriet, kam es auch zu Schlägereien. Nur die Frauen konnten die Raufbolde auseinanderbringen, indem sie sich mit vereinten Kräften auf sie stürzten.
    Während eines solchen Ausflugs ins Grüne, am Sonntag, dem 22 . Juni, kam auf einmal ein Reiter an und meldete: »Es ist Krieg! Alle müssen um 12  Uhr auf dem Zentralen Platz in Priwolnoje sein. Molotow wird eine Rede halten.« In Priwolnoje gab es kein Radio. Es wurde extra eine Funkanlage herbeigeschafft.
    Wir Kinder nahmen das anders auf als die Erwachsenen, die mit versteinerten Gesichtern dastanden. Wir meinten: »Wir werden es den Faschisten schon zeigen!« Dann setzte die Mobilisierung ein, und im Herbst kamen die ersten Gefallenenmeldungen. In der Regel trafen sie abends ein. Wir standen da und lauschten, wo der Berittene stehenbliebe, bei welchem Haus. Es waren junge Männer, die umkamen: unsere Väter, Brüder und Nachbarn.
    Heute wissen wir: Die Ersten, die in den Kampf mit den Faschisten verwickelt wurden, waren unsere Grenztruppen. Jungen der Jahrgänge 1921 / 22 und etwas älter. Die Mehrheit von ihnen kam nicht zurück. Etwa fünf Prozent der Männer dieses Alters überlebte. Ein entsetzlicher Schlag für die Mütter, Frauen, Kinder und Bräute.
    Mein Vater und ein paar Mechaniker wurden für die Erntezeit zurückgestellt. Er wurde erst am 3 . August 1941 einberufen. Ich war dabei, als er mit anderen Eingezogenen fortgebracht wurde. Die einen fuhren auf Karren, die anderen liefen hinterher, um zum letzten Mal mit den ins Unbekannte Aufbrechenden zu sprechen. Die Menschen nahmen voneinander Abschied, denn niemand wusste, ob er zurückkommt.
    20 Kilometer trennen Priwolnoje vom Kreiszentrum. Sie kamen mittags an der Einberufungsstelle an. Vater spendierte mir ein Eis, das beste meines Lebens. Es war heiß, das Eis zerfloss. Ich aß einen ganzen Becher. Und dann kaufte Vater mir auch noch eine Balalaika. Als er von der Front zurückkam, war sie noch da und blieb dann noch viele Jahre in unserer Familie.
    Gerade erst waren die Menschen nach den Erschütterungen des Welt- und Bürgerkriegs, der Kollektivierung und der Repressionen zu sich gekommen, gerade hatte sich das Leben gebessert, es gab einfache Schuhe zu kaufen, Kattun, Salz, Haushaltswaren, Hering, Anchovis, Streichhölzer, Petroleum, Seife – und schon wieder stand Russland vor einer extremen Prüfung, bei der es um das nackte Überleben ging.
    Ich erinnere mich immer noch an meine Fassungslosigkeit, als unsere Truppen zurückweichen mussten und die Faschisten ins Landesinnere vorrücken konnten. Wir Kinder waren nicht weniger entsetzt darüber als die Erwachsenen. Für uns war das einfach eine Tragödie. Wie war das möglich? Im Winter 1941 / 42 waren die deutschen Truppen bei Moskau, 27  Kilometer vom Kreml entfernt, und bei Taganrog, das ca. 200  Kilometer von Priwolnoje entfernt war.
    Mein Vater hatte viele Jahre die kleine Kreiszeitung und die
Prawda
abonniert, die wir auch weiterhin bekamen. Besonders im Herbst und Winter versammelten sich die Frauen häufig abends in unserer Hütte, und ich las ihnen die Meldungen von der Front vor. Sie legten Karten, während ich auf dem Ofen lag und sie betrachtete. Ich verstand nicht, was sie einander beweisen wollten und was die Karten »sagten«. Es ging alles um ihre Männer.
    Die Sorge um das tägliche Überleben nahm die ganze Zeit in Anspruch. Man brauchte Essen, man brauchte Wasser, man brauchte Wärme, und man musste sich um das Vieh kümmern.
    Der Winter des Jahres 1941 war hart. Bei uns im Süden fiel schon am 8 . September der erste Schnee, ein einzigartiges Vorkommnis. Schneefall und Wind hielten ein paar Tage an. Alle Hütten, die sich dem Ostwind entgegenstellen, waren eingeschneit. Nur die Schornsteine ragten heraus. Als sich das Wetter beruhigt hatte, halfen diejenigen, die aus ihrem
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