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Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Titel: Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
Autoren: Michail Gorbatschow
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Haus herauskamen, den anderen, sich freizuschaufeln. So einen Winter habe ich mein Lebtag nicht mehr erlebt.
    Ein paar Tage lang gab es keine Post und auch keine andere Verbindung zur Außenwelt. Und gerade da tobte die erbitterte Schlacht auf Leben und Tod vor Moskau. Später erfuhren wir, dass die Deutschen bei Moskau vernichtend geschlagen worden waren. Moskau hatte standgehalten. Einer der Zeitungen lag ein Büchlein bei, das von der Heldentat der Soja Kosmodemskaja erzählte. Die Zeitung hieß
Tanja
. Alle waren entsetzt über die Brutalität der Deutschen, und alle weinten.
    Die Gefallenenmeldungen rissen nicht ab. Der Krieg verschlang alles: das Leben der Menschen, Städte und Dörfer. Große Teile des Landes waren von den Faschisten besetzt: die Ukraine, Weißrussland, das Baltikum, Moldawien und der Westen Russlands.
    Der Schnee blieb bis zum Frühling liegen, ein richtiges Schneereich. Nur dass einem in diesem Reich das Leben schwer wurde. Mit dem Essen ging es noch, im Jahr 1941 waren ja noch Vorräte da. Aber zum Heizen gab es nichts. Man fällte alte Gartenbäume. Die Betreuung des Viehs war schwierig. Und ganz schlecht stand es um das Futter für das Kolchosvieh: Das Heu stand auf den Feldern, aber die Wege waren eingeschneit. Es musste unter den Bedingungen dieses entsetzlichen Winters transportiert werden. Und all das war den jungen Frauen aufgebürdet, darunter auch meiner Mutter.
    Eines Tages kehrten Mutter und einige andere Frauen nicht vom Einfahren des Heus zurück. Es vergingen ein, zwei Tage, und sie waren immer noch nicht da. Erst am dritten Tag kam die Meldung, die Frauen seien verhaftet und ins Kreisgefängnis gebracht worden. Wie sich herausstellte, hatten sie sich verirrt und die Schlitten mit dem Heu von Heuschobern beladen, die einer staatlichen Aufbereitungsorganisation für Viehfutter gehörten. Die Wache hatte sie verhaftet. Damals konnte man für so etwas hart bestraft werden. Ihre Rettung war, dass alle »Diebe« Ehefrauen von Frontsoldaten waren, alle Kinder hatten und das Futter nicht für den eigenen Gebrauch, sondern für die Kolchose genommen hatten, und auch das nicht mit Absicht, sondern irrtümlich.
    Es ist schwer, alle Belastungen aufzuzählen, denen die Frauen in jenen Jahren ausgesetzt waren: die kräftezehrende Arbeit in der Kolchose, der Haushalt, der Mangel an allem und jedem, Kinder, die nichts anzuziehen und nichts zu essen hatten, die Angst um die Männer.
    Vater schrieb uns oft Briefe und fragte nach allem. Und ich ließ mir manchmal von Mutter etwas diktieren oder antwortete ihm selbst, was häufiger vorkam. Ich glaube, er verstand unsere »Notlügen« in den Briefen.
    Mit dem Weggehen meines Vaters an die Front musste auch ich viel im Haus tun. Ab dem Frühjahr 1942 mussten wir uns um den Gemüsegarten kümmern, der die Familie ernährte. Frühmorgens machte sich Mutter schnell im Haushalt zu schaffen, ging dann in die Kolchose aufs Feld, und von da an lag alles auf meinen Schultern. Meine wichtigste und schwerste Arbeit bestand in der Aufbereitung des Heus für die Kuh und in der Beschaffung von Heizmaterial.
    Das Leben hatte sich total verändert. Wir, die Jungen der Kriegszeit, übersprangen unsere Kindheit und mussten abrupt das Leben Erwachsener führen. Spaß und Spiele waren vergessen, Schule gab es nicht. Tagelang war man allein und musste sich um den Haushalt kümmern. Aber manchmal … Manchmal vergaß ich auf einmal alles auf der Welt, in den Bann geschlagen von einem Schneegestöber im Winter oder von den raschelnden Gartenblättern im Sommer, und tauchte in Gedanken in eine entfernte, irreale Wunschwelt ein. Ins Reich der Phantasie …
    Von Rostow aus überrollten im Sommer 1942 mehrere Rückzugswellen unsere Gegend. Die erste Welle bestand aus Tausenden von Evakuierten aus der Ukraine. Die einen waren mit Rucksack oder Säcken bepackt, die anderen hatten Kinderwagen oder Handkarren. Sie trieben Vieh-, Pferde- und Schafherden vor sich her.
    Großmutter Wasilisa und Großvater Pantelej packten ihre Habseligkeiten und brachen ins Ungewisse auf. Die Ölzisternen des Dorfes wurden geöffnet, man leitete den ganzen Brennstoff in das seichte Flüsschen Jegorlyk, die Getreidefelder wurden abgefackelt, alles, damit es nicht dem Feind in die Hände fiel.
    Die zweite Welle erreichte uns in der zweiten Hälfte des Monats Juli 1942 nach der Aufgabe von Rostow. Der Rückzug war ungeordnet. In großen und kleinen Gruppen trafen finstere und müde Soldaten bei
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