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Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Titel: Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
Autoren: Mario Vargas Llosa
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herrsche ein »Kulturpessimismus« oder neuer, stoischer Realismus (S. 77). Gleichwohl sei der materielle Fortschritt unverkennbar, unsere »Wunder« auf dem Gebiet der Technik und der wissenschaftlichen Erkenntnisse grenzten tatsächlich ans Wunderbare. Doch dieser Fortschritt bedeute auch Schädigung, weil er auf nicht gutzumachende Weise das zwischen Mensch und Natur bestehende Gleichgewicht zerstöre, und nicht immer trage er dazu bei, die Armut zu verringern, vielmehr vergrößere er die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Ländern, Klassen und Individuen.
    Steiner zufolge hat unsere Zeit den Mythos zerstört, wonach Humanismen humanisierten. Demnach stimmt es nicht, wie so viele optimistische Pädagogen und Philosophen glaubten, dass eine liberale Erziehung, zugänglich für alle, in den modernen Demokratien Fortschritt und eine Zukunft in Frieden, Freiheit und Chancengleichheit garantiert, »es können Bibliotheken,Museen, Theater, Hochschulen, Forschungsstätten, also all das, wodurch oder worin die Kultur- und Wissensvermittlung sich vollzieht, durchaus in der Nachbarschaft der Konzentrationslager gedeihen« (S. 86). Und wie für die Gesellschaft gilt für das Individuum, dass zuweilen die Hochkultur, die Intelligenz, die Empfänglichkeit und das Gefühl für Ästhetik Platz finden neben dem Fanatismus der Folterer und Mörder. So sei eines der grundlegenden Werke der Sprachphilosophie nahezu in Hörweite eines Todeslagers entstanden: »denn Heideggers Feder hielt nicht inne, und der Verstand ward ihm nicht verrückt.« (S. 87)
    Dem stoischen Pessimismus der Nachkultur ist alle Sicherheit geschwunden, die zuvor manche nunmehr abgeschafften Unterschiede und Hierarchien boten: »Die Trennungslinie sonderte die obere von der unteren Schicht, die bedeutendere von der geringeren. Sie schied die Zivilisation vom rückständigen Primitivismus, die Bildung von der Unwissenheit, das gesellschaftliche Privileg von den dienenden Klassen, die Reife von der Unreife, die Männer von den Frauen. Und in jedem Falle stand dieses ›von‹ für ein ›über‹.« (S. 90) Der Zusammenbruch dieses Wertgefälles bilde nun das Hauptfaktum unserer sozialen und intellektuellen Gegebenheiten.
    Die Nachkultur, zuweilen im Gewand einer »Gegenkultur«, wirft der Kultur ihren Elitismus vor, die überkommene Verknüpfung von Kunst, Musik, Literatur und Wissenschaft mit dem politischem Absolutismus: »Was hat denn der hohe Humanismus schon getan für die unterdrückte Masse der Gemeinschaft? Wozu war er gut, als die Barbarei hereinbrach?« (S. 95)
    Im letzten Kapitel skizziert Steiner ein recht düsteresBild von der Entwicklung, welche die Kultur nehmen könnte, einer Entwicklung, in der die leblos gewordene Tradition in die gelehrte Obhut verbannt wäre: »Schon ist ja ein dominierender Anteil an Dichtung, religiösem Denken und auch an bildender Kunst aus dem unmittelbar persönlichen Bereich hinübergewechselt in die Kompetenz der Spezialisten.« (S. 116) Was einmal gelebtes Leben war, fällt nun dem Archivarischen anheim. Und die Kultur wird, schlimmer noch, ein Opfer sein – sie ist es längst –, ein Opfer dessen, was Steiner das »Abrücken vom Wort« nennt. In der Ära der Kultur war »das gesprochene, erinnerte und geschriebene Wort zum Rückgrat aller Bewusstheit geworden« (S. 121). Doch nun wird das Wort immer mehr dem Bild untergeordnet und auch der Musik, Identitätszeichen der neuen Generationen, deren Rhythmen, ob Pop, Folk oder Rock, einen alles umhüllenden Raum schaffen, eine Welt, in der Lesen, Schreiben, persönliches Gespräch, Studieren sich »in einem Bezirk des grellen Vibrato« vollziehen (S. 126). Und Steiner fragt sich, was dieses überlaute Melodiegehämmer dem menschlichen Hirn in dessen wichtigsten Entwicklungsphasen zufügt, welche Auswirkungen die »Musikalisierung« unserer Kultur haben könnte.
    Neben der fortschreitenden Beschädigung des Wortes als herausragendem Faktum unserer Zeit verweist Steiner darauf, dass die Umwelt und die ökologischen Veränderungen zunehmend in den Blick geraten, dazu auf die erstaunliche Entwicklung der Wissenschaften – vornehmlich in der Mathematik und den Naturwissenschaften –, welche unvermutete Dimensionen des menschlichen Lebens, der Natur, des Weltraums offenbaren und dabei Techniken schaffen, die das Gehirn und das Verhalten der Menschen zu manipulieren und zu verändern in der Lage sind. Die »Buchkultur«, auf die Eliot sich ausschließlich bezog,
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