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Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Titel: Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Welt« nannte? Und wozu die Aufmerksamkeit schärfen, wenn mit einem Tastenbefehl die Erinnerungen, die ich benötige, zu mir kommen, wiedererweckt durch diese fleißigen Maschinchen?
    Es wundert daher nicht, dass ein Webfan wie Joe O’Shea, Philosophiestudent der Florida State Universityund nun Rhodes-Stipendiat, behauptet: »Sich hinzusetzen und ein Buch von vorn bis hinten durchzuarbeiten, hat doch überhaupt keinen Sinn. Da verschwende ich nur meine Zeit, wo ich alle Informationen, die ich brauche, über das Web viel schneller bekomme.« Sobald man ein geschickter »Online-Jäger« sei, würden Bücher überflüssig. Das Schlimmste daran ist nicht die Schlussfolgerung, sondern dass der Herr Philosoph glaubt, Bücher würden nur gelesen, um sich »zu informieren«. Es ist eine der Verheerungen, die dieses verrückte Kleben am Bildschirm anrichten kann. Und so gesteht auch Katherine Hayles, Literaturwissenschaftlerin an der Duke University: »Ich kann meine Studenten nicht mehr dazu bringen, Bücher ganz zu lesen.«
    Es ist nicht die Schuld der Studenten, dass sie nicht mehr in der Lage sind, Krieg und Frieden oder den Quijote zu lesen. Darin geübt, an ihren Rechnern nach Informationen zu picken, ohne dafür ihre Konzentration über längere Strecken bemühen zu müssen, haben sie die Gewohnheit und selbst die Fähigkeit dazu verloren, sie sind längst konditioniert und begnügen sich mit einem kognitiven Geflatter, wie sie es vom Netz mit seinen unzähligen Links und Sprüngen zu Nachträgen und Ergänzungen kennen, so dass sie gewissermaßen geimpft sind gegen jede Art von Aufmerksamkeit, Reflexion, Geduld und Hingabe, und ohne kann man große Literatur mit Genuss nun mal nicht lesen. Aber ich glaube nicht, dass das Internet nur die Literatur überflüssig macht, denn jedes arbiträre, nicht einem pragmatischen Zweck unterworfene schöpferische Werk steht außerhalb der Art von Erkenntnis und Kultur, wie das Netz sie befördert. Natürlich sind die Werke Prousts, Homers, Poppers und Platons online verfügbar, aber sie werden so schwerlich viele Leser finden. Warum soll ich mich der Mühe unterziehen, sie zu lesen, wenn ich mir einfache, ansprechende und klare Zusammenfassungen des Inhalts dessen ergoogeln kann, was sich die Verfasser dieser Schwarten, welche die prähistorischen Leser einst lasen, ausgedacht hatten?
    Die Revolution der Information ist noch lange nicht abgeschlossen. Im Gegenteil, jeden Tag ergeben sich neue Möglichkeiten, und was gestern unmöglich schien, ist morgen schon Alltag. Sollen wir uns freuen? Zweifellos, wenn die Art von Kultur, die an die Stelle der alten tritt, uns als Fortschritt erscheint. Aber wir sollten uns Sorgen machen, wenn dieser Fortschritt bedeutet, was Christof van Nimwegen, ein klinischer Psychologe, der in einer Studie zum computergestützten Lernen die Auswirkungen auf unser Gehirn und unsere Gewohnheiten untersuchte, herausfand: Vertrauen wir einer Software die Bewältigung aller kognitiven Aufgaben an, reduziert dies die Fähigkeit unseres Gehirns, stabile Wissensstrukturen aufzubauen. Mit anderen Worten: je intelligenter unser Computer, desto dümmer wir selbst.
    Nicholas Carr mag in seinem Buch hier und da übertreiben, wie das zu geschehen pflegt, wenn es darum geht, umstrittene Thesen zu untermauern. Mir fehlen die notwendigen Kenntnisse der Neurologie und der Informatik, um einschätzen zu können, wie verlässlich die Belege und wissenschaftlichen Experimente sind, die er beschreibt. Aber ich habe den Eindruck, dass sein Buch sehr genau und besonnen ist, ein Weckruf, der, machen wir uns nichts vor, ungehört verhallen wird. Und sollte er recht haben, würde dies bedeuten, dass die Robotisierung einer Menschheit, die sich in Abhängigkeit von der »künstlichen Intelligenz« organisiert, nicht aufzuhalten ist. Es sei denn, klar, eine Atomkatastrophe, ausgelöst durch einen Unfall oder einen Terroranschlag, schickte uns zurück in die Höhle. Dann müssten wir neu anfangen, und wer weiß, ob wir es beim zweiten Mal besser machen.
    El País , Madrid, 31. Juli 2011

Danksagung
    So wie die Unzulänglichkeiten und Irrtümer, die es in diesem Essayband geben mag, allein meine sind, verdanken seine womöglich treffenden Argumente sehr viel den Anregungen dreier generöser Freunde, die das Manuskript gelesen haben und denen ich namentlich danken möchte: Verónica Ramírez Muro, Jorge Manzanilla und Carlos Granés.
    Madrid, Oktober 2011
    Mario Vargas Llosa
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