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Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Titel: Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
Autoren: Mario Vargas Llosa
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(womit ich keinen Kausalzusammenhang andeuten will): mehr als neunzig Prozent der 850 000 bayrischen Schüler stammen aus katholischen Familien. Die CSU ist die unbestritten herrschende politische Kraft im Freistaat, und ihr Vorsitzender Theo Waigel stellte sich an die Spitze jener, die gegen das Urteil aus Karlsruhe protestierten. In einem Artikel im Parteiorgan Bayernkurier befand er: »Wenn sich das Gericht immer stärker des vorgeblichen Schutzes von Minderheiten annimmt und die rechtlichen Bedürfnisse der Mehrheit immer stärker in den Hintergrund drängt, sind das Selbstverständnis unserer Gesellschaft und der Verfassungspatriotismus in Gefahr.«
    Eine gemäßigte Reaktion, vergleichen wir sie mit der des Hochwürdigsten Herrn Erzbischof von München und Freising, Friedrich Kardinal Wetter, den die Angelegenheit an den Rand eines Schlaganfalls und – aus demokratischer Sicht noch bedenklicher – des bürgerlichen Aufruhrs brachte, als er daran erinnerte, dasszuletzt die Nationalsozialisten Kreuze aus den Schulen verbannten. Doch aus dem Volk, eiferte der Purpurträger, habe sich Widerstand erhoben: »Was unter der NS-Diktatur damals möglich war, muss in unserem freiheitlichen Rechtsstaat heute doch erst recht möglich sein.« Und wie! Der Kardinal hat zum zivilen Ungehorsam aufgerufen – keine Schule soll den Richterspruch umsetzen – und für den 23. September zu einer Demonstration aufgerufen, zu der gewiss päpstliche Massen strömen werden. Der Protest wird unter dem kriegerischen Stakkato eines vom Kirchenfürsten persönlich geprägten Mottos stattfinden: »Das Kreuz bleibt, gestern – heute – morgen.«
    Wenn die Meinungsforscher ihre Arbeit anständig gemacht haben, unterstützt eine robuste Mehrheit der Deutschen den aufständischen Kardinal Wetter: Achtundfünfzig Prozent missbilligen das Urteil des Verfassungsgerichts, und nur siebenunddreißig heißen es gut. Der beflissene Kanzler Helmut Kohl hat sich beeilt, die Richter zu tadeln für eine Entscheidung, die im Widerspruch zur »christlichen Tradition unseres Landes« stehe, sie erscheine ihm sowohl inhaltlich wie auch im Hinblick auf mögliche Folgen unbegreiflich.
    Doch vielleicht noch bedenklicher für das, was das Verfassungsgericht verficht, ist die Tatsache, dass die einzigen Politiker, die sich bislang zu seiner Verteidigung aufgeschwungen haben, eine Handvoll vegetarischer Schlappenträger sind, Liebhaber des Chlorophylls und der Entbehrung, die in diesem Landstrich der großen Brüh- und Bratwurstfreunde niemand sonderlich ernst nimmt. Der parlamentarische Geschäftsführer der Bundestagsfraktion der Grünen, Werner Schulz, hat inBonn die Notwendigkeit betont, dass der Staat sich in religiösen Dingen strikt neutral zu verhalten habe, zumal in einer Zeit, da durch islamischen Fundamentalismus und Sekten die weltanschauliche Freiheit bedroht sei. Außerdem müsse Schluss damit sein, dass der Staat die Kirchensteuer eintreibe, und er fordert, den Religionsunterricht abzuschaffen und durch einen Ethikunterricht zu ersetzen, ohne eine bestimmte Religion zu privilegieren.
    Von den belebenden Wassern des Fuschlsees aus möchte auch ich meine erkältete Stimme zur Unterstützung des Verfassungsgerichts der Bundesrepublik Deutschland erheben und den Richtern Beifall spenden für ihr klares Urteil, das meiner Meinung nach den soliden Demokratisierungsprozess noch weiter bestärkt, den das Land nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat, das Wichtigste, was Westeuropa im Blick auf die Zukunft widerfahren ist. Nicht weil ich auch nur den kleinsten ästhetischen Einwand gegen Kruzifixe und Kreuze hätte, auch hege ich nicht die geringste Abneigung gegen Christen oder Katholiken. Ganz im Gegenteil. So wenig gläubig ich selber bin, trägt mich doch die Überzeugung, dass eine Gesellschaft eine hohe demokratische Kultur nicht erreichen, das heißt, nicht über völlige Freiheit und Legalität verfügen kann, wenn sie nicht durchdrungen ist von jener Spiritualität und Moralität, wie sie für die übergroße Mehrheit der Menschen untrennbar mit der Religion verknüpft ist. Daran erinnert seit mindestens zwanzig Jahren Paul Johnson, der in seinen ausführlichen Untersuchungen belegt, welch grundlegende Rolle das Christentum bei der Herausbildung einer demokratischen Kultur gespielt hat, alsdas Menschengeschlecht noch durch die Finsternis der Willkür und Gewaltherrschaft taumelte.
    Doch anders als Paul Johnson bin ich auch davon überzeugt, dass,
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