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Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Titel: Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Gründe, die gegen die Sekten angeführt werden, sind zumeist triftig. Es stimmt, dass ihre Jünger oft fanatisch sind und ihre aufdringlichen Methoden eine Plage (ein Zeuge Jehovas belagerte mich in Paris ein volles Jahr lang, um mich zum reinigenden Untertauchen zu bewegen, und verfolgte mich bis in meine Träume); genauso, dass viele dieser Sekten ihre Anhänger finanziell buchstäblich auspressen. Aber ist das nicht bei vielen überaus geachteten Gruppierungen der traditionellen Religionen haargenau dasselbe? Die ultraorthodoxen Juden von Mea Shearim, die samstags Steine auf Autos werfen, die durch das Jerusalemer Viertel fahren, sind sie etwa ein Muster an Anpassungsfähigkeit? Verlangt das Opus Dei vielleicht von seinen Numerariern eine weniger strikte Hingabe als die unnachgiebigsten evangelikalen Gemeinden von ihren Mitgliedern? Es sind nur ein paar herausgegriffene Beispiele, viele weitere ließen sich nennen, aber sie zeigen deutlich, dass alle Religionen – ob bekräftigt von der Patina der Jahrhunderte und Jahrtausende, ihrer reichen Literatur und dem Blut der Märtyrer oder im glitzernden, in Brooklyn, Salt Lake City oder Tokio frisch angerührten Lack – potenziell intolerant sind und einen Hang zum Monopol besitzen; und dass die Argumente, um eine von ihneneinzuschränken oder an der Ausübung zu hindern, auch auf alle anderen zutreffen. Eins geht nur: Entweder man verbietet sie ausnahmslos, wie Naive aller Länder es versuchten – in Frankreich während der Revolution, unter Lenin, Mao, Fidel Castro –, oder man erlaubt sie alle, unter der einzigen Bedingung, dass sie im Rahmen des Gesetzes agieren.
    Selbstverständlich bin ich ein entschiedener Verfechter der zweiten Option. Und nicht nur, weil es ein grundlegendes Menschenrecht ist, den gewählten Glauben zu praktizieren, ohne dafür diskriminiert oder verfolgt zu werden. Auch weil für die übergroße Mehrheit der Menschen die Religion der einzige Weg ist, der zu einem spirituellen Leben und einem ethischen Bewusstsein führt, und ohne gibt es nun mal kein Zusammenleben, keine Achtung der Legalität und auch nicht diesen elementaren Konsens, der ein zivilisiertes Leben trägt. Es ist ein im Laufe der Geschichte oft begangener Irrtum gewesen, zu glauben, dass Vernunft, Wissenschaft, Kultur den Menschen fortschreitend vom religiösen »Aberglauben« befreien würde, bis die Religion, mit ebenjenem Fortschritt, nutzlos geworden wäre. Die Säkularisierung hat nicht Ideen, Wissen und Überzeugungen an die Stelle der Götter gesetzt. Sie hat eine geistige Leere hinterlassen, die die Menschen füllen, so gut sie können, mal mit grotesken Surrogaten, mal mit vielfältigen Formen von Neurosen oder indem sie dem Ruf einer dieser Sekten folgen, die – eben weil sie so hermetisch geschlossen wie übergriffig sind und das Leben ihrer Mitglieder kontrollieren und verplanen – all jenen eine Ordnung und einen Seelenfrieden verschaffen, die sich in der heutigen Welt verwirrt, verloren und vereinsamt fühlen.
    In diesem Sinne sind die Sekten nützlich und sollten nicht nur respektiert, sondern geschützt werden. Allerdings nicht mit dem Geld der Steuerzahler bezuschusst oder unterhalten, so viel ist klar. Ein demokratischer Staat, und ein solcher kann nichts anderes als ein säkularer, das heißt in religiösen Dingen neutraler sein, gibt seine Neutralität auf, wenn er mit dem Argument, eine Mehrheit oder ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung bekenne sich zu einer bestimmten Kirche, diese von der Steuer befreit und ihr Privilegien gewährt, von denen er minoritäre religiöse Weltanschauungen ausschließt. Dergleichen Politik ist gefährlich, denn sie diskriminiert im subjektiven Bereich des Glaubens und bestärkt die Filzokratie.
    Wie weit man hier gehen kann, hat Brasilien gezeigt, als die neue Landeshauptstadt Brasilia gebaut wurde. An einer am Reißbrett gezogenen Straße schenkte man allen Glaubensgemeinschaften der Welt, die einen Tempel errichten wollten, ein Grundstück. Es gibt Dutzende dort, wenn mich die Erinnerung nicht trügt: große und prunkende Gebäude, von einer vielfältigen und eigentümlichen Architektur, unter denen sich donnernd, starrend von Kuppeln und unentzifferbaren Symbolen, der Tempel der Rosenkreuzer erhebt.
    El País , Madrid, 23. Februar 1997

Schlussgedanken
    Ich ende mit einer etwas wehmütigen persönlichen Anmerkung. Seit einigen Jahren überkommt mich beim Besuch von Ausstellungen oder wenn ich Filme,
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