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Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Titel: Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Theaterstücke und Fernsehsendungen sehe oder Bücher, Zeitschriften und Zeitungen lese, das unbehagliche Gefühl, dass man mich auf den Arm nimmt und ich nicht weiß, wie ich mich vor dieser so subtilen wie machtvollen Verschwörung schützen soll.
    So drängte sich mir die beunruhigende Frage auf, warum die Kultur wohl so banal geworden ist. Mir scheint, dieser Niedergang stürzt uns in eine immer größere Verwirrung, aus der sich über kurz oder lang eine Welt ohne ästhetische Werte erheben könnte, in der die Kunst, die Literatur – die humanistische Bildung – nur noch wenig mehr als nachrangige und zutiefst folgenlose Formen der Unterhaltung sind, marginalisiert durch die neuen Massenmedien. Das gesellschaftliche Leben würde sich dann, nach pragmatischen Erwägungen getrimmt, unter der Regie von Technikern und Spezialisten abspielen, im Wesentlichen ausgerichtet auf die Befriedigung materieller Bedürfnisse und beseelt vom Streben nach Profit – Motor der Wirtschaft, höchster Wert der Gesellschaft, alleinige Messlatte für Erfolg und Misserfolg und ebendrum die einzige Rechtfertigung für das Schicksal des Einzelnen.
    Das ist kein Orwellscher Albtraum, sondern eine sehrrealistische Möglichkeit, der sich die am weitesten entwickelten Nationen der Erde, die des demokratischen und freiheitlichen Westens, stetig angenähert haben, während die Fundamente der traditionellen Kultur zerfielen. Nie haben wir in einem an wissenschaftlichen Erkenntnissen und technischen Neuerungen so reichen Zeitalter gelebt wie heute, noch in einem, das besser gerüstet gewesen wäre, um Krankheiten, Unwissenheit und Armut zu besiegen; und gleichwohl waren wir vielleicht nie so ratlos, wenn es um fundamentale Fragen geht wie: Was tun wir auf diesem unserem Gestirn ohne eigenes Licht, wenn das bloße Überleben das einzige Ziel und die alleinige Rechtfertigung für das Leben ist? Bedeuten Wörter wie Geist, Ideal und Solidarität, Liebe und Lust, Kunst und Schöpfung, Schönheit, Seele, Transzendenz noch etwas, und wenn ja, was? Aufgabe der Kultur war es, eine Antwort auf solche Fragen zu geben. Heute ist sie dergleichen Verantwortung enthoben, denn wir haben aus ihr etwas sehr viel Oberflächlicheres und Flüchtigeres gemacht: eine Form des Zeitvertreibs für das große Publikum oder ein rhetorisches, okkultes und obskurantes Spielchen für eitle Zirkel von Akademikern und Intellektuellen, die der Gesellschaft die Schulter zeigen.
    Die Idee von Fortschritt ist trügerisch. Natürlich könnte nur ein Blinder oder ein Eiferer leugnen, dass eine Epoche, in der die Menschen in der Lage sind, zu den Sternen zu reisen, dank Internet in Echtzeit über alle Entfernungen hinweg miteinander kommunizieren, Tiere und Menschen klonen, Waffen produzieren, mit denen sich der ganze Planet sprengen lässt, und mit ihren industriellen Erfindungen die Luft verschmutzen, die wir atmen, das Wasser, das wir trinken, und die Erde, die uns nährt, dass diese Epoche einen beispiellosen Entwicklungsstand erreicht hat. Zugleich ist das Überleben der Spezies nie weniger sicher gewesen, zu groß sind die Risiken einer Konfrontation oder eines Atomunfalls, zu blutig der Wahn der religiösen Fanatiker und zu zerstört schon die Umwelt. Auch hat es in dieser so prosperierenden Welt wohl noch nie ein solches Elend gegeben, denn noch immer leiden Hunderte Millionen von Menschen eine schreckliche Not, nicht nur in den Entwicklungsländern, auch in verschämten Enklaven der glanzvollsten Städte. Und schon lange hat die Welt auch keine Finanzkrise mehr erlebt wie jene, die in den letzten Jahren so viele Unternehmen, Personen und Staaten ruiniert hat.
    In der Vergangenheit war die Kultur oft der beste Seismograf für solche Probleme, sie schuf ein Bewusstsein und verhinderte, dass gebildete Menschen der rauen und grausamen Wirklichkeit den Rücken kehrten. Heute ist sie eher eine Form des Eskapismus, der uns erlaubt, Problematisches zu ignorieren, Dringliches beiseitezuschieben und in ein vorübergehendes »künstliches Paradies« einzutauchen, ein Surrogat wie ein Zug am Joint oder eine Nase Koks, das heißt ein kleiner Urlaub von der Wirklichkeit.
    Das alles sind komplexe Themen und zu groß für das, was dieser Essayband beansprucht. Für mich sind es ganz persönliche Fragen. Sie spiegeln sich auf diesen Seiten, vielfach gebrochen, in der Erfahrung eines Menschen, der, seit er durch die Bücher das geistige Abenteuer entdeckte, zum Vorbild immer jene hatte,
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