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Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Titel: Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
Autoren: Mario Vargas Llosa
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büßt ihre Vorrangstellung ein und wird marginalisiert. Sie existiert also nur noch am Rande der heutigen Kultur, die fast völlig mit der klassischen humanistischen Bildung gebrochen hat – der hebräischen, griechischen, lateinischen –, und wird allenfalls von Spezialisten gepflegt, die sich in einem hermetischen Jargon und anämischer Gelehrsamkeit verschließen.
    In dem vielleicht angreifbarsten Teil seines Essays verficht Steiner die These, dass unsere Kultur – die postmoderne also – vom gebildeten Menschen Grundkenntnisse in Mathematik und in den Naturwissenschaften verlangt, um sowohl die beachtlichen wissenschaftlichen Fortschritte zu begreifen, welche die Welt der Wissenschaft erreicht hat und auf allen Gebieten weiterhin erreicht – in der Chemie, der Physik oder der Astronomie –, als auch ihre Anwendungen, die nicht selten so erstaunlich seien wie die kühnsten Erfindungen der fantastischen Literatur. Dergleichen Postulat ist natürlich utopisch, und es erinnert an jene Utopien, die Steiner in seinem Essay abwertet, denn wenn schon in der jüngeren Vergangenheit ein Pico della Mirandola unvorstellbar war, der das gesamte Wissen seiner Zeit erfasste, scheint ein solch ehrgeiziges Ziel heute nicht einmal für die Computer möglich, deren unendliche Speicherkapazitäten Steiners Bewunderung wecken. Mag sein, dass eine solche Kultur in unserer Zeit nicht mehr möglich ist, aber der Grund wird ein anderer sein, denn allein die Vorstellung von Kultur hatte nie etwasmit Quantität zu tun, sondern immer mit Qualität und Sensibilität. Wie auch in anderen Essays beginnt Steiner mit beiden Beinen auf der Erde und endet in einem wolkigen Irgendwo.
    Ein paar Jahre vor Steiners Essay, im November 1967, erschien in Paris Guy Debords La Société du Spectacle 3 , dessen Titel dem Originaltitel des vorliegenden Bandes – La civilización del espectáculo – zwar ähnelt, die Annäherungen an das Thema Kultur jedoch sind grundverschieden. Debord, Autodidakt, radikaler Avantgardist, Agitator und eine der treibenden Kräfte der provokativen Gegenkultur der Sechziger, bezeichnet als »Spektakel«, was Marx in seinen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844 die »Entfremdung« oder »Entäußerung« des Menschen nannte; sie resultiert aus dem Fetischcharakter der Ware, welche im fortgeschrittenen industriellen Stadium der kapitalistischen Gesellschaft eine solche Bedeutung im Leben der Konsumenten erlangt, dass sich schließlich alles nur um sie dreht und Interessen kultureller, intellektueller oder politischer Art in den Hintergrund treten. Der zwanghafte Erwerb von Produkten, welche die Warenproduktion aufrechterhalten und ankurbeln, bewirkt das Phänomen der »Verdinglichung« oder »Versachlichung« des Einzelnen, der sich dem systematischen Konsum meist überflüssiger und nutzloser Dinge hingibt, welche die Mode und die Werbung ihm aufdrängen. Und so verarmt er innerlich, schottet sich ab und zerstört das Bewusstsein seiner selbst, seiner Klasse und das der anderen, so dass etwa das Proletariat, gleichsam entproletarisiert durch die Entfremdung, für die herrschende Klasse keine Gefahr mehr darstellt und auch keinen Antagonismus.
    Diese Marxschen Gedanken sind die Grundlage für Debords Theorie über unsere Zeit. Seine zentrale These ist, dass in der modernen Industriegesellschaft, in der der Kapitalismus triumphiert und die Arbeiterklasse (zumindest vorläufig) besiegt ist, die Entfremdung das Leben der Gesellschaften beherrscht und dieses in eine Vorstellung entwichen ist, seine Repräsentation, in der alles Spontane, Authentische und Echte – die Wahrheit des Menschlichen – ersetzt wurde durch das Künstliche und Falsche. In dieser Welt bestimmen die Dinge – die Waren – nun das Leben, sie sind die Herren, denen die Menschen dienen, womit die Produktion sichergestellt ist, welche die Eigentümer der Maschinen und Industrien, die diese Waren herstellen, bereichert. Das Spektakel ist dabei »die tatsächliche Diktatur der Illusion in der modernen Gesellschaft« (These 213).
    Auch wenn Debord sich in der Auslegung marxistischer Thesen bisweilen große Freiheiten erlaubt, akzeptiert er doch als kanonische Wahrheit die Theorie von der Geschichte als Klassenkampf und der »Verdinglichung« oder »Versachlichung« des Menschen durch einen Kapitalismus, der künstliche Bedürfnisse, Gelüste und Moden schafft, damit der Markt expandieren kann. Geschrieben in einem unpersönlichen,
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