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Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Titel: Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Zeugnis ablegten. Die Dada-Bewegung sollte dieses Phänomen auf die Spitze treiben. Nach Steiner verkündet die europäische Kultur nicht nur, sie wünscht sich auch, dass eine solche reinigende Brandkatastrophe komme, es werden die Revolutionen und die beiden Weltkriege sein. Statt aufzubegehren, provoziert und feiert die Kultur diese Blutbäder.
    Steiner ist der Überzeugung, »dass eine Analyse vonIdee und Ideal der Kultur das vollste Verständnis der Phänomenologie jenes Massenmordens erfordert, das in Europa zwischen 1936 und 1945 um sich gegriffen hat, und zwar vom Süden Spaniens bis an die Grenzen des asiatischen Russland« (S. 41 f.), und der Grund dafür, dass Eliot dies nicht angepackt habe, erkläre sich womöglich aus seiner Zwiespältigkeit gegenüber allen Dingen, die das Judentum beträfen. Sein Fall ist keine Ausnahme, denn es habe »auch nicht viele Versuche gegeben, das Hauptphänomen der Barbarei des zwanzigsten Jahrhunderts in Relation zu setzen zu einer umfassenden Kulturtheorie« (S. 37). Und Steiner fügt hinzu: »Eine Kulturtheorie […], welche die Natur jenes Schreckens, der in Europa und in Russland zwischen dem Ausbruch des Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkriegs etwa siebzig Millionen Menschen den Tod durch Kampfhandlungen, durch Hunger oder durch geplantes Massaker gebracht hat, nicht zum Angelpunkt ihrer Betrachtung macht, scheint mir von vornherein verantwortungslos und deshalb auch unverantwortlich zu sein.« (S. 38)
    Für Steiner ist Kultur eng mit Religion verbunden, und in diesem Punkt lässt er Eliot gelten, jedoch nicht in einem engeren, konfessionellen Sinn, und so sei Eliots »Sehnsucht nach christlichem Gehorsam zum verwundbarsten Aspekt seiner Beweisführung geworden« (S. 98). Der Willensdrang, so Steiner, der große Kunst und unparteiisches Denken hervorrufe, wurzele »in einem gewagten Spiel mit der Transzendenz« (S. 98), er sei eine Wette gegen die Transzendenz. Dies sei das eigentlich Religiöse jeder Kultur. Doch die westliche Kultur ist seit unvordenklichen Zeiten antisemitisch geprägt, und der Grund ist religiöser Natur. Er ist eine rachsüchtige Antwort der nichtjüdischen Menschheit gegenüber dem Volk, das den Monotheismus schuf, das heißt die Auffassung von einem einzigen Gott, der unsichtbar ist, allgegenwärtig und mit dem Verstand, selbst der menschlichen Vorstellungskraft nicht zu fassen. Die mosaische Gottesauffassung trat an die Stelle des Polytheismus mit seinen Göttern und Göttinnen, die für die Menschen greifbar waren und mit denen sie sich arrangieren konnten. Nach Steiner waren die christlichen Gemeinschaften mit ihren Heiligen, dem Geheimnis der Dreifaltigkeit und dem Marienkult fast sämtlich »Bastard-Gebilde aus monotheistischen Idealen und polytheistischen Praktiken« (S. 47), was es ihnen ermöglichte, etwas von diesen wuchernden Gottheiten zu retten, welche der von Moses begründete Monotheismus abgeschafft hatte. Der einzige, »undenkbare« Gott der Juden übersteigt den menschlichen Verstand – er ist nur im Glauben zugänglich –, und dieser war es, der den philosophes der Aufklärung zum Opfer fiel, die fest davon überzeugt waren, mit einer säkularisierten Kultur würden Folter und Gemetzel, direkte Abkömmlinge des religiösen Dogmatismus, verschwinden. Doch Gottes Tod bedeutete nicht die Ankunft des Paradieses, sondern vielmehr die Hölle auf Erden, beschrieben schon in Dantes Commedia oder vom Marquis de Sade mit seinen Palästen der Lust. Die von Gott befreite Welt wurde nach und nach beherrscht vom Teufel, dem Geist des Bösen, der Grausamkeit, der Zerstörung, was dann sein Paradigma findet in den Schlächtereien der Weltkriege, den Verbrennungsöfen der Nazis und dem sowjetischen Gulag. Eine solche Katastrophe ist fürSteiner das Ende der Kultur, und so leben wir in einer Nachkultur.
    Steiner betont die in der westlichen Tradition verwurzelte Fähigkeit zur Selbstkritik. »Welche anderen Rassen haben sich denn voll Bußfertigkeit jenen Völkerschaften zugewendet, die vordem von ihnen versklavt gewesen – welche anderen Zivilisationen haben die eigene, glanzvolle Vergangenheit der Unmoral bezichtigt? Solcher Reflex kritischer Selbstschau im Namen der absoluten Ethik – er ist nur ein weiterer, kennzeichnender Akt westlichen, post-Voltaireschen Denkens.« (S. 74)
    Eines der Merkmale der Nachkultur sei es, nicht mehr daran zu glauben, dass der Fortschritt, der Weg aller Geschichte im aufsteigenden Sinne verlaufe, es
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