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Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Titel: Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
Autoren: Mario Vargas Llosa
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der digitalen Revolution, der Ausbreitung des Internets und der sozialen Netzwerke hat sich dieser Prozess noch beschleunigt. Nahezu sämtliche Bereiche der Kommunikation, der Kunst, der Politik, des Sports, der Religion et cetera haben die Auswirkungen der omnipräsenten Bildschirme erfahren. »Die Bildschirmwelt hat die Raumzeit der Kultur in ihren Dimensionen durcheinandergewirbelt.« (S. 86)
    All das ist zweifellos richtig. Allerdings bleibt unklar, ob das, was Lipovetsky und Serroy Weltkultur oder Massenkultur nennen und wozu sie selbst die »Markenkultur« der Luxusgüter zählen, tatsächlich Kultur im engeren Sinne sein soll oder ob wir Grundverschiedenes meinen, wenn wir einerseits von einer Wagner-Oper und der Philosophie Nietzsches sprechen und andererseits von den Filmen Hitchcocks und John Fords (zwei meiner Lieblingsregisseure) oder einer Coca-Cola-Werbung. Für die beiden Autoren ist dies selbstverständlich, ich dagegen denke, dass es hier eine Verschiebung gegeben hat, einen Hegelschen qualitativen Sprung. In den beiden ersten Kapiteln dieses Buches will ich erklären, warum.
    Auch scheinen mir einige Behauptungen in La Culture-monde recht zweifelhaft, etwa dass diese neue Kultur weltweit einen extremen Individualismus hervorgebracht hätte. Ganz im Gegenteil, die Werbung und die Moden, welche die Kulturprodukte heute lancieren und durchsetzen, sind ein ernstes Hindernis für die Befähigung unabhängiger Individuen, selbst zu beurteilen, was ihnen an einem Produkt gefällt, was sie bewundern, was sie unangenehm oder scheußlich finden. Die Weltkultur fördert den Einzelnen nicht, sie verblödet ihn, nimmt ihm Klarsicht und freien Willen, so dass er auf die Angebote dieser »Kultur« konditioniert reagiert, wie Herdenvieh, wie der pawlowsche Hund beim Klang des Futterglöckchens.
    Wenig überzeugend ist auch die Annahme von Lipovetsky und Serroy, die Kultur der Vergangenheit habe heute, da Millionen von Touristen Sehenswürdigkeiten wie den Louvre, die Akropolis oder die griechischenAmphitheater auf Sizilien besuchen, nicht an Wert eingebüßt und genieße weiterhin ein hohes Ansehen. Die Autoren merken nicht, dass dergleichen Massenansturm kein Zeichen von echtem Interesse an der haute culture ist, wie sie es nennen, sondern reiner Snobismus, denn an diesen Orten gewesen zu sein gehört zu den Pflichten des postmodernen Touristen. Statt ihn für die Vergangenheit und klassische Kunst zu begeistern, entbindet sie ihn von der Aufgabe, sie mit einem Minimum an Einsatz zu studieren und zu verstehen. Ein flüchtiger Blick genügt, und das kulturelle Gewissen kann beruhigt sein. Die Besuche dieser attraktionslüsternen Touristen verfälschen, was die Museen und Denkmäler wirklich bedeuten, denn absolviert wurden sie nicht anders als die weiteren Pflichten des mustergültigen Touristen: in Italien Pasta zu essen und Tarantella zu tanzen, in Andalusien beim Flamenco und beim Cante jondo zu klatschen, in Paris escargots zu probieren und dann den Louvre zu besichtigen oder eine Vorstellung im Folies Bergère.
    2010 erschien in Frankreich Mainstream 5 , ein Buch, in dem der Soziologe Frédéric Martel aufzeigt, dass die »neue Kultur« oder »Weltkultur«, von der Lipovetsky und Serroy sprachen, längst obsolet ist, überrollt von unserer Zeit. Das Buch ist faszinierend und erschreckend zugleich in seiner Beschreibung der »Unterhaltungskultur«, die fast überall ersetzt, was man vor einem halben Jahrhundert noch unter Kultur verstand. Mainstream ist eine sehr ambitionierte Reportage, recherchiert an vielen Orten der Welt, mit Hunderten von Interviews über das, was infolge der Globalisierung und der audiovisuellen Revolution heutzutage auf den fünf Kontinenten ein gemeinsamer Nenner ist.
    Von Büchern ist bei Martel keine Rede – genannt werden auf den vielen hundert Seiten nur The Da Vinci Code von Dan Brown und als einzige Autorin die Filmkritikerin Pauline Kael –, auch nicht von Malerei oder Bildhauerei, Musik oder Tanz, Philosophie oder humanistischer Bildung, sondern ausschließlich von Filmen, Fernsehsendungen, Videospielen, Mangas, Rock-, Pop- oder Rapkonzerten, von Videos und Tablets und von der »Kreativwirtschaft«, die all das produziert und promotet, von der Unterhaltung des großen Publikums also.
    Der Autor sieht den Wandel positiv, denn auf diese Weise hat die Mainstreamkultur einer kleinen Minderheit die Kulturhoheit entrissen, hat Kultur also demokratisiert und allen zugänglich
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