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Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Titel: Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
Autoren: Mario Vargas Llosa
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wirtschaftliche Aufschwung, der auf die Jahre der Entbehrung im Zweiten Weltkrieg und den Mangel der Nachkriegsjahre folgte. In allen freiheitlich-demokratischen Gesellschaften Europas und Nordamerikas wuchs die Mittelschicht rasant, die Gesellschaft wurde mobiler, die moralischen Parameter änderten sich. Es fand eine bemerkenswerte Öffnung statt, angefangen bei der Sexualität, welche die Kirchen und der prüde Laizismus der politischen Institutionen, ob von rechts oder von links, im engen Korsett hielten. Wohlstand, gelockerte Sitten und immer mehr Freizeit führten dazu, dass die Kulturindustrie, befördert von der Werbung, dieser Zaubermeisterin unserer Zeit, beträchtlich wachsen konnte. So wurde der Wunsch, sich nicht zu langweilen und alles Störende, Beunruhigende oder Beängstigende zu meiden, auf so systematische wie unmerkliche Weise zu einem Generationsauftrag, zu etwas, was Ortega y Gasset den »Geist unserer Zeit« nannte, zu jenem wonnigen, gehätschelten und frivolen Gott, dem wir alle, bewusst oder unbewusst, seit mindestens einem halben Jahrhundert und von Tag zu Tag inniger huldigen.
    Ein weiterer, nicht minder bedeutender Faktor in dieser Entwicklung war die Demokratisierung der Kultur, ein Phänomen, das im Kern durchaus altruistisch motiviert war: Die Kultur sollte nicht länger die Domäne einer Elite sein, eine demokratische und freiheitliche Gesellschaft hatte die moralische Pflicht, sie allen zugänglichzu machen, durch Bildung, aber auch durch Förderung und Subventionierung der Kunst in ihren unterschiedlichsten Ausdruckformen. Nur hatte dieses lobenswerte Ansinnen den unerwünschten Effekt, dass es das Kulturleben trivialisierte und ins Mittelmaß herabzog; wobei formale Laxheit und inhaltliche Seichtigkeit der Kulturprodukte mit ebendem Ziel gerechtfertigt wurde, die größtmögliche Anzahl von Menschen zu erreichen. Quantität auf Kosten von Qualität. Dieses Kriterium, das in der Politik immer schon für die schlimmste Demagogie herhalten musste, hat auf dem Feld der Kultur ungeahnte Auswirkungen gehabt, denn die Hochkultur, ob ihrer Komplexität und zuweilen schwer verständlichen Codes zwangsläufig einer Minderheit vorbehalten, gibt es nicht mehr, der Begriff selbst von Kultur ist in der Masse aufgegangen. Mittlerweile hat Kultur nur noch die Bedeutung, die ihr der anthropologische Diskurs zuweist. Kultur umfasst dann alle Äußerungsformen des Lebens einer Gemeinschaft: Sprache, Glaube, Sitten und Gebräuche, Kleidung, Techniken und letztlich alles, was in ihr praktiziert, gemieden, respektiert und verabscheut wird. Wenn der Kulturbegriff aber zu einem solchen Amalgam wird, bleibt es nicht aus, dass die Kultur bloß noch als angenehme Art verstanden wird, die Zeit zu verbringen. Natürlich ist auch das Teil der Kultur, aber wenn sie am Ende nichts anderes mehr ist, verliert sie ihre Substanz und ihre Würde: Alles, was zu ihr gehört, wird angeglichen und vereinheitlicht, bis eine Verdi-Oper, Kants Philosophie, ein Konzert der Rolling Stones und eine Vorstellung des Cirque du Soleil als gleichwertig betrachtet werden.
    Weshalb es auch nicht verwundert, dass jene Literatur, die wie keine andere für unsere Zeit steht, die Literatur light ist, eine seichte, oberflächliche, einfache Literatur, die zuerst und vor allem (und fast ausschließlich) unterhalten will. Um nicht missverstanden zu werden: Ich verurteile keineswegs die Autoren einer solchen unbeschwerten Unterhaltungsliteratur, denn es gibt unter ihnen echte Talente. Aber wenn heute kaum noch jemand so gewagte literarische Abenteuer in Angriff nimmt, wie ein Joyce, eine Virginia Woolf, ein Rilke oder ein Borges dies taten, dann liegt das nicht allein an den Schriftstellern; es liegt auch daran, dass die Kultur, in der wir nun versinken, solch furchtlose Anstrengungen nicht nur nicht begünstigt, sondern behindert, Anstrengungen, die in Werken gipfeln, welche dem Leser eine fast so große geistige Konzentration abverlangen wie die, die sie ermöglicht hat. Heutige Leser wollen leichte Bücher, und die Nachfrage übt einen Druck aus, der für die Autoren zu einem machtvollen Kriterium wird.
    Es ist auch kein Zufall, dass die kritische Betrachtung aus den gängigen Informationsmedien so gut wie verschwunden ist und nur noch in der klösterlichen Abgeschiedenheit der geisteswissenschaftlichen Fakultäten stattfindet, zumal der Philologien, deren Publikationen nur Fachleute verstehen. Schon wahr, die seriöseren Zeitungen und
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