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Alles auf Anfang: Roman (German Edition)

Alles auf Anfang: Roman (German Edition)

Titel: Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
Autoren: Volker Ferkau
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residiert eine Herrin, die noch auf einer verlassenen Insel sauber leben würde, damit alles seine Ordnung hat. Lotte Wille, die die Pfanne von der glühenden Kochstelle schiebt, duftende Frikadellen rausnimmt und auf einen Teller legt. Sie zündet sich eine Zigarette an und pustet den Rauch aus wie eine Dampfmaschine, deren Motor auf Hochtouren läuft. »Deine Schultasche, Thomas.«
    Ist Lotte Wille eine attraktive Frau? Sie ist es. Wirklich schön ist Lotte nicht, dafür sind die Wangenknochen zu scharf gemeißelt, die Lippen zu schmal. Es umgibt sie etwas Nervöses, Drängendes, als begehre die Jugend zurück, die sich schon vor einundzwanzig Jahren davon gemacht hat, als sie direkt ins Erwachsenenalter gestürzt ist.
    Sogar die Kittelschürze, dieses Relikt hausfraulicher Identität, kann nicht verbergen, dass sich darin eine biegsame Gestalt aufhält, mit sehr weiblichen Formen. Wenn sie spricht, hält sie den Kopf etwas zur Seite geneigt, was sie sich von Zarah Leander abgeguckt hat, da es sie, wie sie findet, freundlicher aussehen lässt, besonders auf Fotos, sodass es keine Fotografie von Lotte Wille gibt, auf der sie den Kopf nicht etwas schräg hält. Beiden, Zarah und Lotte, ist dieser Blick gemein, der einen durchdringt, von innen mustert, bei dem dir nur zwei Möglichkeiten bleiben. Entweder du findest ihn geheimnisvoll oder abweisend, was auch damit zusammenhängt, ob du eine Frau oder ein Mann bist. Vielleicht gewahren wir die Unfähigkeit, Herzenswärme und Hingebung zu spenden, allenfalls einfach nur müde Augen, die dreißig Jahre später an Makulopathie erkranken werden.
    Lotte kommt aus der Nähe von Breslau und musste 1945 aus Schlesien flüchten, mit Mutter und Brüdern. Musste wie so viele andere auch neu anpacken, aufbauen, hat Dinge erlebt, die eine Gänsehaut machen, vornehmlich mit Russen oder willkürlichen Kriegsüberlebenden, bei denen sie vorübergehend den Haushalt führte.
    »Deine Schultasche, Thomas«, wiederholt sie unnachgiebig.
    Es ist Zeit für den Bräunungswettbewerb, jedenfalls nennt Tom die Prozedur so, die gleich stattfinden wird. Dreißig Minuten, die er hasst, und liebt gleichermaßen.
    Bevor das geschieht, kontrolliert Mama den Schulranzen. Das macht sie ab und an ohne Vorwarnung. Alles wird auf Schulbrotreste abgesucht, nach klebenden Süßigkeiten gefahndet – dabei macht Prickel-Pitt überhaupt keine Flecken, weiß Tom, Mausespeck schon, aber den mag er nicht besonders – Mama nimmt die Schreibhefte raus, alles wird aufgeklappt, durchgeblättert.
    »Aha! Da hast du deine Hausaufgaben reingeschrieben ... gut zu wissen, und überhaupt kannst du ja mal besser auf die Schutzumschläge von deinen Büchern aufpassen, und schau dir das hier an: Lakritze am Deutschbuch und außerdem hast du mal wieder blöde Kritzeleien auf die leeren Seiten gemacht. Was machen eigentlich die alten Apfelsinenschalen da unten auf dem Boden vom Ranzen? Schimmeln, vor sich hin - schimmeln und stinken! Wie oft soll ich das noch sagen, dass du auf deine Brocken aufpasst, der ganze Kram ist teuer genug und guck dir das Mal an, dein Etui, der Ratzefummel ist weg, da muss ich schon wieder einen neuen kaufen, kannst du denn kein bisschen aufpassen? Kostet doch alles Geld, dieser Kram und beim Füller ist mal wieder die Tinte ausgelaufen, da frage ich mich, wo das noch hinführen soll ... weil’s kein Pelikan ist? Der hier tut’s auch, aber du gehst ja immer so mit deinen Sachen um, als wär’s nix wert! Jede Woche ´ne kaputte Brille, zerbrochene Bleistifte und der Anspitzer ist wie üblich weg. Morgen will ich eine Tipptopptasche sehen ... Und zwar ohne Aufforderung, ist das klar?«
    »Mama, ich hab Hunger.«
    Mama knallt die Schultasche hin und macht ein Geräusch, ähnlich dem Ruf einer Krähe, ein Stoßseufzer von ganz tief raus. »Da denkt einer an mich«, sagt sie.
    Das sagt sie immer, wenn sie das macht, jeden Tag ein paar Mal. Jetzt denkt Oma an mich! Oder: Jetzt denkt Papa an mich! Oder es denkt einfach irgendeiner an sie. Tom hat noch nicht rausgekriegt, was sie dazu treibt, d iese Mischung aus Schrei und Rülpser auszustoßen, als ersticke sie, aber eines Tages hofft er, das Rätsel zu lösen.
    Während im Hintergrund der Hitparadenerfolg Liebeskummer lohnt sich nicht, my Darling ... läuft, sammelt Tom seine Sachen zusammen und stopft alles in den Ranzen zurück. Die Durchsuchung ist beendet und er bedauert inständig, dass er selbst vor ein paar Monaten den Grund dafür geliefert
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