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Alles auf Anfang: Roman (German Edition)

Alles auf Anfang: Roman (German Edition)

Titel: Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
Autoren: Volker Ferkau
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haben außerhalb der Zeche nicht viel mit den Gastarbeitern zu tun, abgesehen von dem wohligen Schauder, den sie erleben, wenn in der Zeitung steht, dass wieder mal ein Türke sein Messer gezogen oder ein Auto geklaut hat.
    Wenn Frank mit seinen Kumpels über die Behandlung der Gastarbeiter spricht, ist ihm wichtig zu verdeutlichen: »Besonders die Türken kommen gut mit uns Kumpels aus. Sie sind prima Kerle. Ich habe mit keinem von ihnen Ärger ...« So denken die meisten Kumpels. Man kommt gut aus mit den Türken.
    «Ben sana ne yaptim?”, keucht der Anatolier. «Nix getan Cemir.”
    Frank wickelt sich ein Badehandtuch um die Hüften. Oskars Hand gleitet von seinem Arm. Die Streitfragen zwischen ihnen haben in dieser Sekunde kein Gewicht.
    »Du bist doch nicht mehr als ein Pott stinkender Sülze«, speit Schotterbein aus und spielt damit auf den Nachnamen des Türken an. He Sülze, mach mal das, he Sülze, mach mal dies! Jeder hier in dieser feuchten Schwüle kennt Schotterbeins Sprüche. Anfangs haben einige das noch lustig gefunden. Jetzt nicht mehr. »Von mir aus kannst du wieder in dein Scheißdorf zurückgehen, zu deinen Weibern und deinem Esel und deinem Kusskuss oder was ihr da so fresst!« Sein Steigerstock, dieses Requisit der Macht, klopft tock! tock!, an die Spindtür.
    Die Männer wissen, was Schotterbein für einer ist. Es gibt Gerüchte, er sei bei der SS gewesen, damals. Heute, neunzehn Jahre später, führt er mit eiserner Hand. Und das respektieren nicht wenige der Kumpels, die zum Teil noch an der Front gewesen sind oder in Russland, manche erst sehr spät zurückgekehrt. Er ist halt ein Eisenfresser, der Schotter, ein zäher Hund, der Schotter, sagen einige. Ist so, wie sie ihn nennen. Er entscheidet, wer die guten oder die schlechten Arbeiten abkriegt, der Schotter, wer Überschichten kloppen darf oder wer mit seinem Grundlohn über die Runden kommen muss. Er entscheidet, wer Früh-, Mittag-, Spät- oder Nachtschicht hat. Stänkerer schuften sich seit Jahren durch die Nacht, sind nur noch Schatten ihrer selbst; endlich kuschen sie vor ihm, vor Schotterbein, Steiger, Grubenchef.
    Cemirs Wangen sind nass. Es ist beschämend, als dieser kraftvolle Mann weint. »Pisadam!« stößt er hervor und es gehören keine Sprachkenntnisse dazu, die Beschimpfung zu begreifen. Wenn er will, kann er Schotterbein verprügeln. Das wäre ganz einfach. Cemirs Oberarme haben den Umfang von Schotters Oberschenkel. Aber er weiß, dass man ihn in den nächsten Zug setzen wird. Goodbye, Türke! Grüß mir dein Land! Genau das will dieser Schinder, dieser respektlose Mann. Für einen wie den sind Türken nur Untermenschen. Dieses blonde Haar weiß nichts von Ehre und davon, dass heute etwas mit Cemir geschehen ist, weil er seinen Zorn nicht mehr beherrschen kann, den er herausgeschrien hat, der aus seinen Augen überfließt und für Hasan, Mahmut, Yamal und seine anderen türkischen Brüder in diesem kaltgelben Saal als Zeichen der Schwäche gewertet werden könnte. Die Ehre des Mannes bedeutet ein großes Gut und die Ehre der Familie ist in den Dörfern an der kurdischen Grenze im Südosten der Türkei das wichtigste. Welchen Rang ein Mann in seinem Dorf hat, das richtet sich vor allem danach, ob und wie er für die Ehre seiner Familie eintritt. Deshalb werden seine Brüder ihn, so Allah will, verstehen, denn er tritt für die Familie ein, reißt sich zusammen für die Familie, schindet sich für die Familie.
    Hier in Deutschland verdient Cemir acht Mal mehr, als er im selben Zeitraum daheim erarbeiten kann. Dafür erträgt er jeden Tag die Erniedrigung durch Vorgesetzte. Erträgt auch den Stumpfsinn der drei Männer, der aus fehlender Bildung resultiert, mit denen er sich ein Zimmer teilt. Er dankt Allah, dass er sich sechsmal in der Woche hier auf der Zeche duschen, reinlich halten darf, denn ein Badezimmer hat er genauso wenig wie eine richtige Toilette.
    In seinem Heimatdorf Hemite ist Cemir der einzige Mann, der lesen kann. Dieses Wissen stellt ihn über die anderen. Er ist stolz darauf, dass in seinem Dorf nur noch wenige Männer ihre Ehefrauen schlagen, dass Vergewaltigungen streng geahndet werden. Dafür hat er gesorgt und dafür achtet man ihn. Sogar die Weiber tun das. Hier, auf der Zeche, achtet ihn niemand.
    Mit einer trotzigen Geste wischt er sich das Gesicht trocken. Er hat den Steiger einen Scheißkerl, einen Pisadam genannt. Cemir ist Respekt gewohnt und erhält diesen für gewöhnlich.  Nun muss er
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