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Alles auf Anfang: Roman (German Edition)

Alles auf Anfang: Roman (German Edition)

Titel: Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
Autoren: Volker Ferkau
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hat.
    Ganz klug wollte er sein, erinnert er sich. Er hatte sich von seinem Taschengeld ein Comicheft gekauft, Spider-Man.  Alle Welt sprach davon. Schon die Titelseite begeisterte Tom. Die Super-Duper Teenager Ausgabe!, steht da in großen Buchstaben, und der Held kommt von oben links nach unten gesprungen, das Spinnennetz weht hinter ihm her. Ja, das musste Tom haben. Da gab es nur ein Problem: Seitdem Toms Schulnoten in Latein auf fünf stehen, sind Comichefte im Hause Wille streng verboten!
    Was tun, wenn Mama oder Papa das Heft finden? Etwa zugeben, ungehorsam gewesen zu sein und das wenige Taschengeld komplett für das Heft bezahlt zu haben? Immerhin kostete es eine Mark. Das ist ganz schön viel Geld.  Es bedurfte einer Idee. Mit seinem Filzstift schrieb Tom in schönen Druckbuchstaben, die er mit seinem Lineal exakt einrahmte, dass es wie ein Stempel anmutete, auf die Titelseite rechts hin: PROBEEXEMPLAR.
    Selbstbewusst legte er das Heft auf den Küchentisch. Man habe es ihm geschenkt. Eines der ersten Hefte der Spider-Man-Serie, ein Werbeexemplar und was man geschenkt kriegt, darf man auch behalten.
    Papa nahm das Heft, blätterte es durch, runzelte missbilligend die Stirn und auf der Titelseite stutzte sein Blick.
    »Umsonst?«, fragte er knapp.
    »Ja, Papa.«
    »Ist das wahr, Thomas?«
    »Aber da steht’s doch. Probeexemplar.«
    »Bilderhefte machen dumm. Über deine Schulnoten müssen wir ja wohl kaum diskutieren. Anstatt diese Dinger zu schmökern, solltest du mehr für die Schule tun.«
    Toms Ohren wurden heiß. Er senkte den Blick.
    »Normalerweise liest du ganz andere Sachen. Hast du nicht kürzlich mit Oliver Twist angefangen?«
    »Ja, aber ...«
    »Sag mir, was du an Charles Dickens gut findest.«
    Tom musste nicht lange nachdenken, denn sie hatten schon öfter darüber gesprochen. Letzten Weihnachten hatte er nicht nur ein Fünf-Freunde-Buch von Enid Blyton, sondern auch eine berühmte Abhandlung über Dickens geschenkt bekommen, was sehr anstrengend zu lesen war und ohne Brockhaus nicht funktionierte. Papa legt viel Wert auf seinen Brockhaus. Wer etwas nicht kenne, solle dort nachschauen. Wer das nicht tue, sei faul und bliebe unwissend. Lernen kann man lernen, auch wenn’s wehtut, mein lieber Filius.  Daran erkenn’ ich den gelehrten Herrn, zitiert Papa gerne den Faust. Zumindest hält Papa sich an seine eigenen Regeln. Neuerdings kritzeln alle Erwachsenen in Kreuzworträtseln rum. Da ist der Brockhaus bei Papa stets im Einsatz.
    Manchmal fragt Tom sich, warum Papa nicht Arzt ist oder Rechtsanwalt, wo er doch so klug ist, so viele Bücher gelesen hat und so weiter. Dann erkennt er, dass er über seinen Vater kaum was weiß, dass dieser große Mann einer mit einer ganz eigenen Vergangenheit ist, mit einer ganz eigenen Geschichte, über die er nie redet, nicht mal, wenn er Bier getrunken hat.
    Er blickte auf und antwortete: »Irgendwie ... strahlen die Geschichten von Dickens. Sie gehen immer gut aus. Die Bösen werden bestraft, die Guten werden belohnt.«
    »Meinst du, deine Geschichte mit diesem Spiderman strahlt?« Wie er Schpiedermann sagte, machte Papas Meinung klar.
    »Ich wollt’s ja grad lesen ... Dann kann ich es dir sage ... aber ich glaub, dass der Gute hier auch gewinnt ...«
    »Weißt du, warum deine Schwester Ottilie heißt?«
    »Ja, Papa.« Als wäre das was Neues. Diese Frage war eine Formel, die Tom mehr als geläufig war. Es verging keine Woche, in der er sie nicht hörte. Brauchte Papa diese Pause, um nachzudenken, was er später sagen würde?, fragte er sich. Hätte er Papa jene Folgerung mitgeteilt, wäre dieser vor Verblüffung über die Hellsichtigkeit seines erst elfjährigen Sohnes wohl ziemlich baff gewesen.
    »Weil sie die reinste Romangestalt ist, die Goethe je geschaffen hat. Ich liebe Goethe so sehr, dass ich meine eigene Tochter ...«
    »Ja, aber ...« Tom kannte die Geschichte und wusste auch, wie sehr seine Schwester unter ihrem Namen litt, für den sie hin und wieder in der Schule gehänselt wurde.
    »Du hast mal zu Mama gesagt, dass du ganz schön stolz drauf bist, dass ich so klug bin, dass ein elfjähriger Junge ...«
    »... das mein elfjähriger Junge mich belügt!«
    »Was hat Ehrlichkeit mit Literatur zu tun?«, rutschte es Tom raus und für einen Moment blinzelte Papa, hob ganz kurz die Brauen an, während um seine Mundwinkel ein Lächeln huschte. Tom jappte und zog instinktiv den Kopf zwischen den Hemdkragen. Bei Mama wären solche Patzigkeiten nicht
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