Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
ist sie bei uns zu Hause«, stellt Frank fest und seine Stimme bebt. »Und hört endlich auf, über Ottilie zu reden, als sei sie nicht anwesend.«
Tom setzt sich zu seinem Vater und leert in einem Zug das Glas Mineralwasser, spült Gabys Kuss hinunter, der ihm im Moment nicht mehr glücklich macht. Ottilie! Wie können wir dir helfen? Warum tust du dir das an? Ja, er liebt seine große Schwester, aber es liegt nicht in seiner Macht, sie zu heilen. Sie will sich wehtun. Will es, tut es. Weil sie etwas in die Welt hinaus ruft, wenn sie sich die Haut zerschneidet. Weil sie diesen Schmerz benötigt, um ihre Meinung kundzutun. Um ihre Wut zu äußern? Kann es sein, dass sie sich nicht mehr spürt, dies tut, um das richtige Gefühl für sich zu bekommen? Oh Manno, er wird mit ihr reden müssen. Ihm wird sie sich anvertrauen. Er ist nicht mehr der Kleine, ist schon fast ein Mann, ein geküsster Mann!
Ottilie sieht an ihrer Mutter vorbei und wendet sich mit erstaunlich harter Stimme an Gina: »Ich gehe jetzt nach oben und hau mich hin. Ich habe keine Lust auf diese Versammlung, keine Lust auf diese verlogene Bagage. Und macht nicht so ein Getöse aus diesen paar Schrammen.« Nun nimmt sie auch ihren Vater und Tom ins Visier »Der eine hintergeht den einen, jeder ist nur auf seinen Vorteil bedacht.«
Sie geht. Schmal, hochgewachsener, als Frank sie in Erinnerung hat, den Kopf im Nacken, das Kinn voraus, in stiller Weise stolz. An der Tür dreht sie sich noch einmal um und bedenkt ihre Familie mit einem matten Blick. »Schuldig!«
Dann ist sie hinaus. Wie ein Geist und lässt Verblüffung und Betroffenheit zurück.
Es ist fast vier Jahre her, dass Lotte dieses Wort – Schuldig! - das letzte Mal aus Ottilies Mund gehört hat und ihr ist zum Kotzen zu Mute, ihre Beine zittern, als stehe sie nackt in einem Raum voller bekleideter Menschen und alle starren sie an, während Ochsenaugen an ihrem Rücken baumeln.
Gleichzeitig lodert Zorn in ihr hoch, jene ihr vertraute Lotte-Härte, die sich wie Sackleinen über ihre Seele legt und keine Nachgiebigkeit duldet. Verdammt noch mal, Ottilie! Hör auf, diese Schau abzuziehen! Sag endlich, was du meinst! Du bist kein kleines Kind mehr. Schluss mit dieser Theatralik, mit diesen bühnenreifen Abgängen! SCHLUSS DAMIT! Sonst ... sonst KNALL ICH DIR EINE, BIS DU WIEDER KLAR WIRST IM KOPF! Wir sind hier nicht in einem dramatischen Film! Das hier ist nicht irgendein Rührstück, sondern die gottverdammte Realität – hier geht es um dein Wohl, um das Wohl der Familie – um die Wahrheit! RÜCK SIE ENDLICH RAUS, DIE WAHRHEIT! So denkt sie - und schluckt es runter.
»Ottilie!« ruft Lotte. «Ottilie!” Mehr bringt sie nicht raus.
»Lass sie«, sagt Gina besänftigend.
Lotte will ihrer Tochter folgen, als Otto meint: »Bleib bitte hier, Lottchen. Wir haben zu reden. Gina macht das schon.«
Gina nickt und folgt ihrer Nichte.
»Sie ist meine Tochter«, zischt Lotte und schüttelt Ottos Hand ab.
»Selbstverständlich ist sie deine Tochter.«
»Es steht nur mir zu ...«
»Du wirst sie noch oft genug ins Bett bringen können«, sagt Otto. Er streichelt ihr über die Wange. Er weist auf den leeren Sessel. »Du siehst müde aus.«
Noch einen Moment zögert Lotte, dann spürt sie, wie eine bleierne Schwere über die Seele streicht. Ergeben plumpst sie in das weiche Leder. »Ich habe auch allen Grund dafür.«
»Ja, das hast du«, sagt Otto und seine Stimme hat einen für ihn ungewohnt selbstbewussten und beruhigenden Unterton.
Sogar Tom scheint dies aufzufallen, denn er rückt seine Brille zurecht und mustert seinen Onkel interessiert.
»Ich komme gleich wieder«, sagt Otto. »Muss mal auf die Toilette.«
Das muss Lotte auch, aber sie will jetzt nicht, stattdessen findet ihr Blick den von Frank.
Was haben wir falsch gemacht?, liegt als Frage darin.
Das werden wir heute ein für alle Mal klären!, kommt die Antwort zurück.
»Ich möchte sie wieder bei uns haben«, sagt Tom, weil ihm nichts Besseres einfällt und die Ruhe wehtut.
»Sie wird wieder zu uns zurückkehren, das verspreche ich dir«, murmelt Frank.
Tom sieht sich unauffällig um. Er ist das erste Mal hier und was er sieht, fasziniert ihn. Dieser Raum ist nach seinem Empfinden so groß, dass die ‚gute Stube‘ der Willes zweimal hier reinpassen würde und wie edel alles aussieht. Das Sideboard da und der Tisch mit der Marmorplatte, der hat was ganz Dolles! Ein richtiges Prunkstück ist der, ziemlich modern. Und
Weitere Kostenlose Bücher