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Allein unter Muettern - Erfahrungen eines furchtlosen Vaters

Allein unter Muettern - Erfahrungen eines furchtlosen Vaters

Titel: Allein unter Muettern - Erfahrungen eines furchtlosen Vaters
Autoren: Tillmann Bendikowski
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Laufe ihrer Geschichte im Wesentlichen drei Gründe gab, Lieder anzustimmen: Sie taten es erstens, wenn sie als Soldaten andere Länder überfielen (»Deutschland, Deutschland über alles« und so weiter). Zweitens – und dieser Grund ist im Gegensatz zum ersten Anlass noch immer aktuell – wenn sie betrunken sind. Dann tun es übrigens Männer wie Frauen unterschiedslos enthemmt. Und drittens – womit wir wieder bei den lieben Kleinen sind –, singen die Deutschen immer dann, wenn Kinder weinen. Als ob der Umstand (dass ein Kind weint) nicht schon schlimm genug wäre. Warum um alles in der Welt wird in dieser Situation gesungen? Ich kenne selbstverständlich die landläufige Erklärung: Weil sich das Kind dann beruhigt. Aber bedenken wir in unserer musikalischen Hinwendung zu dem armen Wurm in diesem Augenblick auch, welche Langzeitschäden wir durch diese Trostform provozieren?
    Betrachten wir den tröstenden Gesang aus der Perspektive des Kindes: Dieses ist ja darauf aus, im Handeln der Erwachsenen Struktur, Logik und Konsequenz zu ergründen (jetzt bitte nicht spotten, Kinder sind eben Illusionisten). Wenn sie etwas tun oder wenn etwas geschieht, so gehen sie davon aus, dass die Folgen zumeist logisch und wiederholbar sind. Und so lernen sie auch – von den singenden Eltern vermutlich völlig unbeabsichtigt –, dass es einen inneren Zusammenhang zwischen Schmerz und elterlichem Gesang gibt. Beide Phänomene gehören untrennbar zusammen: Wenn ich mir wehtue, singt die Mutter. Also auch umgekehrt: Wo dieser Gesang ist, ist Schmerz. (Um auf die beiden oben genannten Phänomene noch einmal kurz einzugehen: Auch bei diesen bedingen sich Gesang und Anlass in der Erwartung schließlich gegenseitig – wenn wir abends auf den Straßen massenhaften Gesang hören, vermuten wir, dass Alkohol im Spiel ist. Und wenn dies in Grenznähe passiert, mögen unsere Nachbarn die Angst haben, dass die Sänger einmarschieren wollen.)
    Zurück zum Nachwuchs. Wenn frühkindliche Schmerz- und Gesangserfahrung zusammenkommen, kann das nach meiner Einschätzung langfristig nicht ohne Folgen bleiben. Aber wie gesagt: Die Literatur schweigt sich zu diesem Thema aus. Übrigens auch bei dem so wichtigen Zusammenhang zwischen elterlichem Singen und elterlicher Einschlafaufforderung. Vielleicht bin ich ja zu sensibel, aber oft genug habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich meinen Kindern beim Einschlafen wie gewohnt »Der Mond ist aufgegangen« vorsinge. Jedenfalls im Sommer, wenn es – und daran ist ausnahmsweise einmal nicht die Sommerzeit schuld – beim sommerlichen Ins-Bett-Gehen noch sonnig-hell ist. Wo bitte steht da ein Wald schwarz und schweigend? Dürfen wir Eltern so unverblümt unehrlich sein? Heißt es nicht immer, Selbsterziehung geht der gelungenen Erziehung voran? Verspielen wir so nicht früh singend unsere Glaubwürdigkeit? Der Zweifel bleibt.
    Eine letzte Spielart des Singens in der frühkindlichen Pädagogik habe ich vergessen. Diese erinnert mich ein wenig an den lauschenden Hund vor dem Grammophon (falls den noch jemand kennt) und die Formulierung »His Master’s Voice«. Es gibt nämlich Handlungsanweisungen für Kinder, die gesungen werden, damit sie freundlicher klingen. Wenn die Kindergärtnerinnen nach der Gartenzeit fröhlich trällern: »Alle Kinder groß und klein – kommen rein, kommen rein«, so ist das einerseits schön anzuhören und andererseits ob des verblüffenden Erfolges auch schön anzusehen. Und rasch ertappe ich mich bei dem Gedanken, die eine oder andere Handlungsanweisung daheim auch in zärtlichen Gesang zu kleiden. Welche Weise könnte das Motiv »Jetzt zieh dich endlich an, die Schule fängt auch ohne dich an« oder die wiederkehrende Frage »Hast du dir die Zähne geputzt?« so fröhlich transportieren? Sie haben es erraten, keine (außer man ist Wagner-Fan, aber wer dessen Werke zu früh kleinen Kindern antut, darf sich hinterher ohnehin nicht beschweren, wenn sie in andere Länder einmarschieren). Also nehme ich von dieser Indienstnahme des Gesangs durch die Autorität Eltern Abstand. Musik soll etwas Schönes sein und nicht die Fortsetzung mehr oder weniger gelungener Erziehung mit anderen Mitteln.
    Womit wir wieder bei Reinhard Mey wären. Die erwähnte Allergie überwand mein Sohn übrigens rein zufällig: Eines Abends ergriff ich vor dem Einschlafen wieder die Klampfe und sang meinen drei Jungs etwas vor. Reinhard Mey durfte es ja nicht sein, und da kam mir gerade recht, dass Udo
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