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Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Autoren: Christian Y. Schmidt
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verraten, wie man diese Stadt per Bus verlässt. Mehrere Tage durchkämme ich die Stadt vergeblich nach einer Touristeninformation. Auch Peter weiß von nichts, genauso wie jeder andere Westler, den ich in den nächsten Tagen treffe. Jeder von ihnen ist in die Stadt mit dem Flugzeug gekommen, und wenn sie sie verlassen, dann auch so; ein paar haben sogar schon mal den Zug genommen, aber noch nie einer den Bus.
    Auch Leonie, Herta und Eva wissen von nichts, obwohl auch sie schon einige Zeit in Shanghai wohnen. Ich treffe sie an meinem dritten Abend in einem chinesischen Restaurant. Ich kenne keine von den dreien. Doch Leonies Mutter bewahrte mich einst in der albanischen Erdölstadt Fier davor, mich im Rakirausch aus dem Fenster zu stürzen. Das reicht allemal für eine Verabredung in China. Leonie hat gerade das Abitur gemacht und ist für ein Praktikum nach Shanghai gekommen. Früher wollte sie Veterinärmedizin studieren, weil sie ein krankes Pony hat, doch inzwischen soll es Sinologie sein. Ich finde es interessant zu sehen, wie schnell das heutige China die jungen Leute rumkriegt. Und womit: «Am meisten mag ich», sagt Leonie, «dass ich beim Essen rumsauen darf.» Das mag ich übrigens auch, auf der Suche nach der 318 bringt es mich allerdings nicht weiter.

    In jedem anderen Land der Welt würde ich das Straßenverkehrsamt anrufen, aber was mache ich in China? Ich habe hier noch nie ein Telefonbuch gesehen, und wenn ich eins in der Hand hielte, könnte ich es nicht lesen. Auch beim Bummeln durch die Stadt werde ich kaum zufällig über die 318 stolpern. Die Nationalstraßen sind in den Innenstädten nicht markiert. Es bleibt also nur der Stadtplan. Dort beginnt die 318 am Stadtautobahnring, ungefähr zehn Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Verlängert man aber die Straße über den Ring hinaus Richtung Stadtmitte, geht sie durch die ganze Stadt hindurch, bis sie als Nanjing Lu am Huang-Pu-Fluss endet.
    Das ist eine kleine Entdeckung, denn die Nanjing Lu ist nach dem Bund die berühmteste Straße Shanghais. Sie führt am Platz des Volkes vorbei, wo etliche der schönsten historischen Gebäude Shanghais stehen: das Shanghaier Kunstmuseum, das bis in die dreißiger Jahre hinein der von den Briten gegründete Pferderennclub war, das Grand Cinema und das Park Hotel, beide erbaut von dem ungarischen Architekten László Hudec. Das Kino galt einst als das modernste auf der ganzen Welt; es verfügte sogar über ein Simultanübersetzungssystem, das man in alle 1913 Sitze eingebaut hatte. Das Hotel, ein kleines Art-déco-Wunder, soll bei seiner Eröffnung mit vierundzwanzig Stockwerken Asiens höchstes Gebäude gewesen sein, und noch bis in die Mitte der achtziger Jahre war es das höchste Haus in der ganzen Stadt.
    Doch das sind nicht die einzigen Superlative, die die Nanjing Lu zu bieten hat. Schon immer war sie DIE Einkaufsmeile Chinas, dort wurden die ersten großen Kaufhäuser des Reiches hochgezogen. Im The Sun fuhren seit 1934 die ersten Rolltreppen. Nach der Revolution wurde das Kaufhaus in Department Store No. 1 umbenannt; für lange Zeit das beste Kaufhaus des Landes. Dieses Kaufhaus steht immer noch, hat aber mittlerweile gleich nebenan zig moderne Shoppingmalls als Konkurrenz. Heute gilt die Nanjing Lu mit ihren insgesamt sechs Kilometern Länge als eine der längsten Einkaufsstraßen der Welt. Und auch wenn ich noch nicht weiß, wie ich aus dieser Stadt rauskommen soll, weiß ich wenigstens schon mal, dass genau auf dieser Straße meine lange Reise beginnt.
    Deshalb nehme ich mir noch einen Tag, um mir die Nanjing Lu einmal genauer anzuschauen. Ich will die Stimmung hier testen, Leute sehen und schließlich irgendwo an dieser Straße feiern, dass es jetzt wirklich losgeht. Dabei sollen mich die großen Sehenswürdigkeiten nicht interessieren. Deswegen lasse ich am nächsten Morgen auch den Jing’an Si links liegen, einen monströs hässlichen buddhistischen Tempel, der vor vier Jahren mit viel Beton zu einer Art buddhistischer Wolfsschanze ausgebaut wurde. Noch scheußlicher ist nur eine Aluminiumskulptur, die vor dem Rathaus des Jing’an-Distriktes steht. Sie sieht aus wie eine zerschnittene Version der Bremer Stadtmusikanten und heißt Cavallerie Eroica. Eigentlich ist es aber gar nicht die Skulptur, die mein Interesse weckt, sondern das englischsprachige Schild darunter. Wie sehr oft in China erklärt es erst einmal, was man sieht oder sehen soll: «‹Cavallerie Eroica› shows the dynamics and the
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