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Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Autoren: Christian Y. Schmidt
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nicht zu haben. Auf jeden Fall ist dieser Stadt eine gewisse Grundaggressivität nicht abzusprechen. Gut, dass zumindest die echte Nanjing Lu noch steht. Der letzte Abschnitt, der sich zwischen dem Platz des Volkes und dem Huang-Pu-Fluss erstreckt, ist eine Fußgängerzone, und was hier auf mich zukommt, weiß ich schon von Jörn und Philipp, meinen lustigen Freunden aus Berlin. Ich muss auch wirklich nicht lange warten. Eine kleine, kompakte Frau kommt auf mich zugeschossen, bleibt nur dreißig Zentimeter vor mir stehen und quietscht: «Massatschieee?» – «No, thank you», antworte ich erschrocken. «But me very beautiful.» Das stimmt nun gar nicht, und ich muss lachen. «Yes, too beautiful», sage ich schnell, und ich mache, dass ich weiterkomme. Ich grinse noch, als schon eine zweite Frau vor mir steht. Diese ist tatsächlich sehr schön, und weil sie das weiß, muss sie es mir nicht sagen. Sie hat auch einen guten Blick. «Du bist aus Deutschland», sagt sie mir auf den Kopf zu. «Woher weißt du das?» – «Ich weiß noch viel mehr. Du wirst mit mir ein Bier trinken gehen.» Das ist zwar eine der schönsten Prophezeiungen, die eine schöne Frau einem nicht ganz so schönen Mann machen kann. Trotzdem sage ich auch zu ihr nein. «Ich kann dieses Wort nicht leiden», sagt sie schmollend und ist schon wieder weg.

    Ich gebe zu, es ist nicht unangenehm, als Mann in leicht vorgerücktem Alter von jungen Mädchen auf der Straße angesprochen zu werden. Aber ein bisschen lästig wird es schon, wenn sie alle drei Minuten ankommen. Noch mehr nervt allerdings, wenn zwei langbeinige Girls in Miniröcken einen kurz mustern, die eine dann der anderen einen fragenden Blick zuwirft, worauf diese abschätzig die Mundwinkel verzieht und beide an mir vorüberziehen, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen. Das ist Jörn und Philipp nicht passiert. Sie sind gleich mit den ersten Mädchen mitgegangen, in eine Bar. Die Jungs bestellten Bier und die süßen Mädchen doppelte Whiskeys. Ob die echt waren, kann bezweifelt werden. Die Rechnung allerdings war nicht gefälscht. Sie betrug viertausendeinhundert Yuan, umgerechnet vierhundertzehn Euro, was ungefähr dem Monatsgehalt eines höheren Angestellten in China entspricht. «Dabei hat mir meine», erzählte Jörn später, «noch nicht einmal zugehört, als ich über mein Lieblingsthema, deutsche Indiebands, gesprochen habe.» Die «aggressiveness» in dieser Stadt kennt eben keine Grenzen.
    So bin ich froh, dass ich mich unbeschadet bis zum Anfang der Nanjing Lu durchschlagen kann, der gleichzeitig der Nullpunkt meiner Nationalstraße sein muss. Dort steht das berühmte Peace Hotel, dessen Front auf den Bund sieht. Vor der Revolution sind hier Charlie Chaplin und George Bernard Shaw abgestiegen, und Noël Coward schrieb hier sein erfolgreichstes Theaterstück. Schon damals gab es in dem Hotel im obersten Stockwerk eine legendäre Jazzbar. Hier will ich auf den Anfang der Reise und der Straße etwas trinken und dabei über den Huang-Pu-Fluss nach Pudong hinüberblicken. Dort steht das ganze Science-Fiction-Ensemble, mit dem jeder Artikel in einer westlichen Zeitung über das moderne China illustriert wird: der Oriental Pearl Tower, immer noch der höchste Fernsehturm Asiens, das metallisch blitzende Jin-Mao-Hochhaus, das fünfthöchste Gebäude auf der Erde, hinter dem jetzt schon die Baukräne eines noch größeren Hauses zu sehen sind: Das World Financial Center wird 492 Meter hoch sein, wenn es fertig ist. Doch ich freue mich zu früh auf diesen Blick von oben. Die Einzigen, die das Peace Hotel heute nutzen, sind Straßenhändlerinnen, die kleine, klebrige Spiderman-Plastikpüppchen an die glatten Marmorwände werfen, wo sie sich langsam abrollen. Das berühmte Hotel ist wie so viele chinesische Sehenswürdigkeiten in diesem Jahr wegen vorolympischer Renovierungsarbeiten geschlossen. Ich nehme das als Wink des Schicksals, denn eigentlich wurde die Jazzbar des Peace Hotels schon viel zu oft für Shanghai-Porträts strapaziert.

    Das Schicksal rät mir stattdessen: Beginne deine Reise doch lieber dort, wo nie jemand losfährt, nämlich nicht am Fluss, sondern direkt darunter. Hier verläuft der Bund Tourist Sightseeing Tunnel. Dieser längste Unterwassertunnel der Welt nur für Fußgänger verbindet den westlichen Teil Shanghais mit dem östlichen. Doch er dient nicht bloß dem Transport. Er ist auch so etwas wie eine Mischung aus Geisterbahn, Computerspiel und Großraumdisco.
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