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Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Autoren: Christian Y. Schmidt
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das nicht passieren. Die Polizei müsste uns erschießen, um an unsere Haustiere zu kommen.» Ähnlich leidenschaftlich berichtet Carol jetzt auf dem Podium davon, wie sie ihren Mann aufgerissen hat. «Ich bin gleich die erste Nacht mit ihm ins Bett gegangen.» Da brandet spontan Beifall auf im Publikum. Die Lesung endet überraschend mit einem durchdringenden Schimpansenschrei. Carol grüßt damit eine gute Freundin, die sie in einer Ecke der Bar erspäht hat. Sie ist also vielleicht doch kein Frettchen, sondern ein Hominide. Inzwischen sind etliche Männer in die Bar gekommen, denn die Trinkenszeit ist angebrochen. Sie begrüßen sich, indem sie mit dem Zeigefinger aufeinander zeigen. Einer von ihnen, ein gutgenährter 45-Jähriger mit Halbglatze, heißt Matthew. Ich weiß es, weil er sich den Namen mit Kreppklebestreifen auf sein rotes «Shanghai»-T-Shirt geklebt hat. «Hi», begrüßt er mich, «ich bin Matthew, der rappende Professor.» Damit hatte ich nicht unbedingt gerechnet, aber auf jeden Fall ist Matthew eine willkommene Abwechslung nach all dem Tierschutzkram. «Aha, und das heißt?», frage ich interessiert. «Ich bringe Chinesen Englisch bei. Rappend.» – «Wie das?» – «Ungefähr so: Yeah! I’m the rapping professor and this is what I do, bringing special songs and poems and raps to you …» In diesem Moment wird Matthews Flow unterbrochen. Eine Frau in einem roten Abendkleid verkündet, Edith habe die Flasche Tierschutzchampagner von Taittinger gewonnen und Mary die Nacht für zwei im Tierheim, Entschuldigung, im Grand Hyatt natürlich.
    Die Durchsage wäre eigentlich ein guter Anlass für Matthew, sich mit mir normal weiter zu unterhalten, aber er bleibt auch danach beim Rap. Das wird mir nun doch ein bisschen zu viel. Ich seh schon: Auch dieser Mann ist einer der typischen Expats mit «Ideen». Davon hatte ich schon in Peking einige getroffen. Das Problem bei diesen Leuten ist oft, dass die «Idee» nicht so gut funktioniert, wie sie anfangs glaubten. Auch bei Matthew läuft es nicht richtig rund: «Ich lasse mich für Business-Events und Feiern buchen. Aber die Chinesen sind ein undankbares Publikum. Sie unterhalten sich laut oder telefonieren, während ich auf der Bühne stehe. Außerdem hat mich mein Vermieter rausgeschmissen, ich stehe auf der Straße.» – «Das ist übel. Und wo schläfst du jetzt?» – «Keine Ahnung. Vielleicht reiße ich für heute Nacht die kleine Inderin da vorne auf …» Ich bin etwas skeptisch, bei seiner Frisur und seinem Bauchansatz. «Du meinst, du kannst bei dieser extrem gut aussehenden Inderin landen?» – «Klar, Mann, schließlich bin ich so was wie ein Popstar. Ich habe gerade einen Song aufgenommen, ein Plädoyer für den Frieden im Irak. Willst du mal hören?» Nein, eigentlich will ich nicht, aber einen rappenden Professor kann offenbar keiner stoppen: «My motherland is filled with tanks and tears/bombs and fears/drowning our ears in pain, amid the flames/everywhere troops and guns …»
    Nach zehn Minuten schaffe ich es, mich von Matthew loszueisen, nur nutzt das nicht viel. Der nächste Mann, den ich treffe, ist ein schlaksiger Australier um die sechzig, der sagt, dass er Cartoons zeichnen, schreiben und dichten kann, und mir eine Visitenkarte gibt, auf der als Berufsbezeichnung «Great Australian» steht. Allerdings sind der Rapprofessor und der Berufsaustralier letztlich harmlos. Unangenehmer sind die echten Business-Leute, die mir im Laufe des Abends über den Weg laufen. Zwei unterhalten sich neben mir über die Bauernaufstände, die es letzte Woche in Südchina gab: «Es wird nicht mehr lange dauern, bis China crasht.» – «Genau. Und wenn dann alle abhauen, kaufen wir.»
    Am Ende des Abends habe ich immer noch nicht rausbekommen, wofür das M in M on the Bund steht. «Motherfuckers» kann es nicht sein, denn dann würde sicher Carol ihr Buch hier nicht präsentieren. Mich beschleicht wieder die Angst, dass ich in China niemals mehr aus diesen Kreisen herauskomme und aus mir am Ende auch so eine originelle Nummer wird: ein tierschützendes Frettchen, ein rappender Deutschlehrer oder – wenn es ganz böse läuft – ein zynischer Chinainvestor. Morgen, schwöre ich mir, muss ich mich auf jeden Fall um meine Abreise kümmern.
    Das ist einfacher gesagt als getan. Meine gute Straßenkarte von Südchina sagt mir zwar, dass die Nationalstraße 318 in Shanghai beginnt, aber ich kann nicht in Erfahrung bringen, wo genau. Auch kann mir keiner
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