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Allein auf Wolke Sieben

Allein auf Wolke Sieben

Titel: Allein auf Wolke Sieben
Autoren: Voosen Jana
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Sterbenden. In diesem Augenblick tritt ein dunkelhaariger Mann mit markantem Kinn und athletischem Körperbau an mich heran. Verstohlen beobachte ich ihn von der Seite. Auch nach Jahren in diesem Job fasziniert es mich immer wieder, wenn die Seele eines Menschen sich von ihrem Körper löst. Außer den durchdringend grauen Augen hat mein Gegenüber nichts gemein mit der leblosen Gestalt, die er im Krankenbett zurückgelassen
hat. Er wirkt jung und dynamisch und sieht mich misstrauisch an.
    »Sie sind ja tatsächlich noch da,« stößt er hervor.
    »Selbstverständlich«, nicke ich. »Ich bin hier, um Sie nach oben zu begleiten.«
    »Nach oben? Wie meinen Sie das, etwa in den Himmel?«
    »Genau.« Ungläubig schüttelt er den Kopf, sieht an sich herunter und stößt einen leisen Pfiff aus.
    »Was ist denn mit mir passiert? Ich sehe aus, als wäre ich dreißig.«
    »Das liegt daran, dass Sie Ihren Körper abgestreift haben. Und die Seele unterliegt keinem Alterungsprozess«, erkläre ich ihm geduldig, während er seine jungenhaften Hände mit den altersfleckigen Exemplaren seiner leblosen Überreste vergleicht.
    »Das ist doch nicht zu fassen«, entfährt es ihm. »Das heißt, es geht wirklich weiter?«
    »Immer weiter«, bestätige ich und ein Lächeln breitet sich auf seinem markanten Gesicht aus. Seine Zähne sind ebenmäßig und strahlend weiß.
    »Das hätte ich nicht für möglich gehalten«, sagt er und beginnt unvermittelt, in sich hineinzukichern.
    »Das sagten Sie bereits«, erwidere ich und sehe ihn ein wenig befremdet an. Sicher, vielleicht muss nicht jeder auf den eigenen Tod so empfindlich reagieren wie ich damals, aber ein wenig Mitleid mit seinen schluchzenden Verwandten könnte der Mann schon haben. Aber es ist nicht meine Aufgabe zu urteilen. Deshalb bemühe ich mich um einen neutralen Tonfall: »Vielleicht möchten Sie sich von Ihrer Familie verabschieden, bevor wir gehen?« Er wirft einen Blick auf seine
Kinder und Enkel und sagt: »Das habe ich schon den ganzen Tag getan. Ausgiebigst! Jetzt möchte ich zu meiner Frau! Sie wartet bestimmt schon auf mich.«
     
    Auf dem Weg nach oben versuche ich Wilhelm vergeblich klarzumachen, dass es durchaus möglich ist, dass seine Frau, die er zärtlich Annie nennt, bereits ein neues Leben begonnen hat. Zehn Jahre sind schließlich eine lange Zeit. Aber davon will er nichts hören.
    »Ich weiß, dass sie auf mich gewartet hat«, sagt er in einem so bestimmten Tonfall, dass ich verstumme. Na gut, wenn er meint. Ich wollte ja nur nicht, dass er sich falsche Hoffnungen macht.
    »Für jemanden, der bis eben noch nicht einmal an ein Leben nach dem Tod geglaubt hat, sind Sie aber jetzt ziemlich überzeugt«, kann ich mir dennoch nicht verkneifen, und er zuckt mit den Schultern.
    »Annie wusste, dass es weitergeht. Sie hat ständig davon geredet. Ich hätte auf sie hören sollen, dann wären die letzten zehn Jahre leichter gewesen.«
     
    Er hatte Recht. Obwohl ich den ganzen Tag auf den Beinen war, hat er mich nach unserer Ankunft im Himmel gezwungen, mit ihm zum Seelenmeldeamt zu gehen, um dort nach der Adresse seiner Annie zu forschen. Und weil er sich hier oben nicht auskennt, musste ich ihn natürlich auch dorthin begleiten. Zwar hat mich die rührende Wiedervereinigung der beiden etwas entschädigt, doch ändert dies nichts an der Tatsache, dass ich in dieser Nacht mal wieder zu wenig Schlaf bekommen habe.

    Schlaftrunken wälze ich mich am nächsten Morgen auf die andere Seite und versuche den erbarmungslosen Sonnenstrahlen zu entkommen, die durch die geschlossenen Lider auf meine Netzhaut brennen und dem Körper, oder wie auch immer man das hier oben nennt, unmissverständlich zu verstehen geben, dass es nun vorbei ist mit der Nachtruhe. Ich habe keine Jalousien oder Gardinen, die das Licht aussperren. Ich lebe ganz im Einklang mit der Welt. Dem Himmel. Aber auch nach sechs Jahren habe ich mich noch nicht daran gewöhnt, mit der Sonne aufzustehen. Unten war ich ein erklärter Langschläfer. Ein Morgenmuffel bin ich hier auch noch. Ich bin so müde. Missmutig tapse ich zum Fenster meines Schlafzimmers und blinzele träge zum Horizont in Richtung des flammenden Feuerballs. Auch in den anderen Häusern erwachen die Seelen langsam, ich will nicht sagen »zum Leben«, denn das wäre polemisch. Am mir direkt gegenüberliegenden Fenster erscheint jetzt mein Nachbar Thomas und winkt mir fröhlich zu.
    »Guten Morgen«, ruft er herüber, »wir sehen uns gleich!« Ich
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