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Alle Zeit - Roman

Alle Zeit - Roman

Titel: Alle Zeit - Roman
Autoren: Kathrin Gerlof
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Jünger oder älter. Hat gepinselt. Oder Hackfleisch aus Marmor gemacht? Vergessen. Alles
     vergessen. Wieso kann ich dann noch träumen? Müsste doch auch alles verschwunden sein. Oder nur verlegt? Egal. Jetzt geht’s
     ans Schlafen. Und das wird harte Arbeit.

 
    Svenja landet auf dem Fußboden. Die Fallhöhe beträgt nur dreißig Zentimeter, und verglichen mit der Anstrengung der letzten
     Stunden ist dieser Sturz ein lächerlicher kleiner Schmerz. Außerdem sind alle Knochen weich und biegsam. Svenja ist gerade
     zehn Sekunden alt. Frisch gepresst sozusagen, runzlig, blutig und blind aus einer Höhle gekrochen. Ein weißes Blatt Papier
     ist sie, nur in der Lage, den letzten Rest Fruchtwasser auszuspucken und zu schreien.
    Svenjas Mutter streicht sich die verschwitzten grünen Haare aus dem Gesicht und lächelt. Die Hebamme nimmt das nasse Bündel
     und stellt allerlei Sachen mit ihm an. Wunderbar, murmelt sie, dreitausendvierhundert Gramm und schwarze Haare. Zehn Finger
     und genau so viele Zehen, zweiundfünfzig Zentimeter. Ganz prachtvoll. Wir haben’s geschafft, jubelt sie und schaut die grünhaarige
     Mutter an. Es ist ein Mädchen, und du bist die Mutter.
    Svenja, sagt Svenjas grünhaarige Mutter. Ich heiße Juli, wie der Sommer. Meine Mutter fand, es ist ein schöner Name. Aber
     in der Schule haben sie mich oft geärgert. Wo ist dein August, Juli, haben sie hinter mir hergerufen. Zu Svenja fällt ihnen
     später bestimmt nichts ein. Svenja ist einfach nur ein schöner Name. Einer, der schon lange in meinem Kopf war. Schon bevor
     du gezeugt wurdest, wusste ich, dass du so heißen wirst. Juli und Svenja, wir sind seit Ewigkeiten ein Paar. Ich werde dir
     alles beibringen, was ich weiß. Du sollst jeden Tag etwas Schönes lernen. Von mir.Von anderen. Wir gehen in den Park. Gleich morgen tun wir das. Dort sitzen alte Frauen und schmeißen Wörter in den See. Die
     fischen wir raus und machen sie uns zu eigen.
    Die Hebamme wischt den Fußboden auf und bezieht das Bett. Sie macht einen Kaffee für sich und einen Tee für Juli. Sie gibt
     den Blumen frisches Wasser und telefoniert kurz mit ihrem Mann. Sie kocht eine Suppe, denn ihr scheint, dass die Mutter und
     das Kind an diesem Abend allein sein werden. Es sei denn. Sie ruft ihren Mann noch einmal an und sagt, sie will eine Nacht
     wegbleiben. Weil niemand sonst da ist für die beiden Erschöpften. Svenja schläft, und Juli ist leer im Kopf vor lauter Glück.
    Hier fehlt es an fast allem, murmelt die Hebamme und sucht einen Gemüseschneider. Im Besteckfach findet sie eine grüne Glasscherbe.
     Die erinnert sie an die Narben auf Julis Handgelenken. Sie wirft die Scherbe in den Müll und wetzt ein kleines Küchenmesser
     an einem Porzellankrug. Dann schneidet sie sich in den Finger. Drei Tropfen Blut kommen mit in die Gemüsesuppe.
    In den Park könnt ihr morgen noch nicht, ruft die Hebamme in das andere Zimmer. Zu kalt. Die Kleine muss sich erst mal akklimatisieren.
    Juli lächelt. Dann übermorgen. Wir haben alle Zeit der Welt. Morgen können wir ja einen Ausflug durch die Wohnung machen.
     Die Hebamme nickt und rührt im Topf.

 
    Das Zimmer, in dem sie aufwacht, ist ihr fremd. Auf keinen Fall ist sie in diesem Raum gestern Abend eingeschlafen. Irgendwas
     muss in dieser Nacht passiert sein. Man hat sie verlegt, oder sie hat sich verlegt. Das kann schon mal vorkommen. In ihrem
     Alter kann überhaupt alles vorkommen.
    Sie setzt sich auf und stellt nacheinander die Füße auf den Boden. Erst den linken, dann den rechten. Auf dem Nachttisch,
     Nachttisch, sagt sie und tippt mit dem rechten Zeigefinger das Möbelstück an, steht ein Aquarium, in dem Zähne schwimmen.
     Sie wühlt in der Schublade und findet ein paar Kekskrümel. Damit füttert sie die Zähne. Das Wasser wird trüb und hört auf
     zu grinsen.
    Gucken wir mal, wen wir hier so kennen. Tisch, Teppich, Bett, Bild, Fenster, Waschbecken, Kiste. Kiste ist falsch. Mit der
     hier kann man etwas machen. Anschalten, ausschalten, reinschauen. Kiste. Noch ein Wort verschwunden. Kiste.
    Sie legt sich wieder hin, schaut an die Decke und malt mit dem rechten Zeigefinger einen Kringel in die Luft. Fliegerhorst,
     sagt sie und schließt die Augen. Fliegerhorst. Das ist eine gut gefüllte Schublade. Vollständig. Eine ganze Geschichte mit
     einem Anfang und einem Ende. Davon hat sie noch einige im Kopf. Alle in kleinen Schubladen, die sie hütet wie einen Schatz.
     Geschichten, die in ganzen Sätzen
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