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Alle Zeit - Roman

Alle Zeit - Roman

Titel: Alle Zeit - Roman
Autoren: Kathrin Gerlof
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aus. So sah das unbebaute Grundstück aus,diese vier Fichten mussten wir fällen, um Platz für das Häuschen zu schaffen, in dem Zelt haben wir geschlafen während der
     Bauzeit, hier ist das Fundament fertig und hier schon das ganze Haus, auf das Dach haben wir Pappe gelegt und sie geteert,
     dass es meilenweit stank. Unser erstes Frühstück auf der Terrasse, da konntest du nicht still sitzen und hast versucht, einen
     bunten Vogel zu fangen. Erinnerst du dich, Elisa?
    Ich erinnere mich. Es war ein Eichelhäher, und ich bin gestürzt, als ich ihn fangen wollte. Habe mir das linke Knie aufgeschlagen
     und die Lippe. Und dann ist Großmutter Klara gekommen und hat mir ein Lied vorgesungen.
    Henriette schweigt. Henriette schweigt immer, wenn von Klara die Rede ist. Sie schweigt, wie nur Töchter schweigen können,
     die sich vorgenommen haben, ihrer Mutter nie im Leben zu verzeihen. Elisa schaut aus dem Fenster und seufzt.
    Ich habe mich umgehört, Henriette, Mutter. Ich weiß, wo Klara ist. Sie lebt. Und verliert gerade den Verstand. Oder das Gedächtnis,
     was wahrscheinlich auf das Gleiche hinausläuft.
    Henriette steht auf und geht auf die Toilette. Mit ihrer schwarzledernen Tasche bahnt sie sich einen Weg durch das überfüllte
     Café, geht durch eine Tür, die zur Küche führt, kommt wieder raus, guckt verwirrt, geht durch eine andere Tür.
    Wenn sie zurückkommt, wird sie wieder unseren Tisch nicht finden, denkt Elisa. Das hat sie nun wirklich geerbt, vom Fleisch
     und vom Blut. Diese Unfähigkeit, in einer Kneipe den Weg zurück an den richtigen Tisch zu finden. Sie merkt sich inzwischen
     immer genau, wie sie aufs Klo kommt. Rechts, geradeaus, links, links. Und zurück geht sie dann rechts, rechts, geradeaus,
     links. Das funktioniert.Sie hat es Henriette schon oft erklärt und ihr gesagt, sie solle es genauso tun. Aber Henriette ist unfähig, so etwas zu lernen.
     Wenn sie einkaufen geht, läuft sie aus jedem Laden raus und in die falsche Richtung. Garantiert. Kein Zufall will es, dass
     sie auch einmal die richtige Richtung erwischt. Erst wenn sie dann vor dem nächsten Laden steht, sagt sie sich, hier war ich
     schon, und kehrt um.
    Du musst einfach immer nur die entgegengesetzte Richtung von der nehmen, die du einschlagen willst, hatte Elisa empfohlen.
     Aber auch das funktionierte nicht. Plötzlich war die Richtung, die Henriette einschlagen wollte, die richtige und das Gegenteil
     verkehrt. Absolut verrückt.
    Bei Elisa funktionierten fast alle Tricks, auch der mit der entgegengesetzten Richtung. Henriette aber war ein Phänomen und
     manövrierte sich ständig in unmögliche Situationen.
    Jetzt kommt sie von der Toilette und biegt zehn Meter vom Tisch entfernt nach links ab. Mutter, ruft Elisa und hebt beide
     Arme. Eine Kellnerin eilt auf sie zu. Elisa schüttelt den Kopf, steht auf und läuft Henriette hinterher. Die steht verwirrt
     mitten im Raum und schaut sich hektisch nach allen Seiten um. Mutter, sagt Elisa und fasst Henriette am Arm.
    Jemand ist gegen den Tisch gestoßen. Die Fotos liegen auf der Sitzbank und auf dem Fußboden. Elisa bückt sich und sammelt
     sie ein. Sie bestellt noch eine heiße Schokolade und einen Cappuccino für Henriette. Hast du gehört, was ich über Klara gesagt
     habe? Ich weiß, wo sie ist, und du hast nicht mehr viel Zeit, dich mit ihr zu versöhnen. Sie ist alt und dabei, ihr Leben
     zu vergessen. Ich habe mit einer.
    Das will ich nicht hören, Elisa, schweig einfach. Ich habe alles in mein Tagebuch geschrieben, und wenn ichtot bin, kannst du nachlesen, warum ich das nicht hören will. Klara ist tot. Für mich. Du kannst ja, wenn du willst, kannst
     du ja mit ihr Kontakt aufnehmen. Aber erzähl es mir nicht. Ich will es nicht wissen, hörst du. Versprich mir, dass du nichts
     erzählst.
    Elisa nimmt Blickkontakt mit einem Mann am Tresen auf und lächelt. Gut, ich werde es dir nicht erzählen. Aber Juli, die soll
     es wissen. Wenn wir von unserer Erinnerungsreise zurückkommen, gehe ich die alte Frau besuchen. Vielleicht erkennt sie mich,
     oder nein, sie kann mich nicht erkennen, aber vielleicht erinnert sie sich an mich. Schließlich hat sie mir damals Lieder
     vorgesungen und Geschichten erzählt. Und man sagt doch, das Langzeitgedächtnis funktioniert fast bis zum Schluss. Vielleicht
     heißt es ja deshalb so, Langzeitgedächtnis, weil es am längsten funktioniert.
    Juli hat mich, ihre Großmutter.
    Natürlich, aber eine Urgroßmutter ist auch nicht
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