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Alle Zeit - Roman

Alle Zeit - Roman

Titel: Alle Zeit - Roman
Autoren: Kathrin Gerlof
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dunkle Wolken in die Augen. Fängt an zu stottern und fragt, ob man jetzt schon ins Bett müsse.
    War also nur ein kurzer lichter Moment, denkt Klara, und eine Träne tropft aus ihrem rechten Auge. Aber sie wird jetzt das
     ganze Frühstück durchhalten und erst im Zimmer wieder zu sabbern anfangen. Wer weiß, wie lange sie das noch hinkriegt. Es
     wäre wirklich besser, vorher zu sterben. Aber hier geht das nicht, man kann nicht mal Schlaftabletten sammeln, weil man keine
     bekommt. Der Alzheimer fängt sich wieder und fragt Klara, ob sie heute Nachmittag zum Tanztee kommt.
    Natürlich, denkt Klara, wohin sollte ich sonst gehen. Und vielleicht kommt ja jemand, um Amok zu laufen. Und schießt uns alle
     tot. Sie lächelt dem Alzheimer zu und wünscht sich und ihm zwei lichte Momente beim Tanztee. Dann geht sie wieder ins Zimmer.
     Dort angekommen, weiß sie nicht einmal mehr ihren Namen.

 
    Juli steht am Kopfende des Bettchens und beugt sich über Svenjas Gesicht.
    Warum tust du das, fragt die Hebamme, während sie den Ölradiator in die Nähe der Wickelkommode schiebt.
    Kinder sehen in den ersten Wochen alles verkehrt herum. Wenn ich mich so über Svenja beuge, bin ich in ihren Augen richtig.
     Die Hebamme guckt skeptisch. Wo hast du das gelesen?
    Kinder müssen auf jeden Fall erst mal sehen lernen. Das schreiben sie alle. Und ich will nicht, dass Svenja mich auf dem Kopf
     sieht.
    Wann willst du eigentlich all die Sachen von deiner Mutter wiederhaben? Sind zehn Kisten, glaube ich. Mein Keller ist ein
     wenig feucht, ich finde, die Kisten wären hier besser aufgehoben.
    Juli streicht sich eine grüne Strähne aus dem Gesicht und schließt die Augen. Kannst du sie nicht noch ein paar Wochen bei
     dir behalten? Wenn Svenja richtig gucken kann, hole ich die Sachen ab. Dann zeige ich ihr alles.
    Juli, sagt die Hebamme, Juli. Dann schweigt sie und nickt Zustimmung. Wir bringen dir dann die Kisten mit dem Auto vorbei.
     Mein Mann und ich. Jetzt lass mich die Kleine wiegen und den Nabel anschauen.
    Ich vergesse sie. An Henriette kann ich mich noch gut erinnern, aber Elisa, meine Mutter, verschwindet immer mehr aus meinem
     Kopf. Obwohl sie an unserem letzten gemeinsamen Abend gekocht hat. Ich weiß auch noch,was. Ein Bauernhuhn. Mit unglaublich vielen Oliven. Ich mag ja Oliven nicht, nur den Geschmack, den sie an die Soße abgeben.
     Also habe ich an dem Abend alle schwarzen Oliven an den Tellerrand sortiert, und Elisa hat sie kopfschüttelnd, wie immer,
     auf ihren Teller geladen. Henriette war irgendwie durcheinander beim Essen. Obwohl sie sich auf die Fahrt freute, war sie.
     Schweigsam. Und sie hat immer ein wenig ängstlich geschaut, wenn Elisa was erzählte. Ich weiß nicht, warum. Auf jeden Fall
     sehe ich Henriette ganz deutlich vor mir mit ihren frisch gefärbten dunkelbraunen Haaren und dem leicht verwischten Lippenstift.
     Und ich weiß noch, dass ich an diesem Abend zum ersten Mal gedacht habe: Jetzt bekommt Henriette diese kleinen senkrechten
     Falten um den Mund herum. In denen sich der verwischte Lippenstift besonders gut hält. Henriette wird alt, dachte ich. Elisa
     muss besser auf sie aufpassen.
    Svenja schließt die Augen, Juli reißt ihre weit auf. Sie kniet sich dicht vor der Wand auf den Boden, legt die Stirn auf den
     Flickenteppich und die Hände und macht einen Kopfstand. Siehst du, sagt sie zur Hebamme, so sieht Svenja die Welt.
    Die Hebamme lächelt. Und, ist sie schön, die Welt?
    Von hier aus betrachtet, bist du ein Monster und keine Hebamme mehr. Viel zu groß für Svenja, wir müssen in die Knie gehen,
     wenn wir uns ihr nähern.
    Na klar, sagt die Hebamme, die Welt fängt an zu watscheln, damit es den Kindern bessergeht. Sie legt Svenja ins Bettchen und
     stellt sich an das Kopfende. Mach’s gut, sagt sie, und pass auf deine kopfstehende Mutter auf. Leg sie einfach immer an, wenn
     sie schreit, empfiehlt sie Juli. Das wird sich alles einspielen. Jetzt kann sie dich schon riechen. Das habe ich gelesen.
     Nach vier Tagen riechen die Neugeborenen ihre Mutter.
    Meine Milch, sagt Juli. Sie riecht meine Milch. Aber ist egal, Hauptsache, sie erkennt mich und vergisst mich nicht.
    Die Hebamme geht. Juli denkt an die Kisten, die ihr bald ins Haus kommen werden. Zehn Kisten voller Erinnerungen. Dann wird
     sie auch wieder wissen, wie Elisa ausgesehen hat. Und vielleicht wird sie auch wissen, warum Henriette am letzten Abend so
     ängstlich war.

 
    Elisa packt Henriette und alle Taschen ins Auto.
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