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Alle Zeit - Roman

Alle Zeit - Roman

Titel: Alle Zeit - Roman
Autoren: Kathrin Gerlof
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Es hat geschneit in der Nacht, und die Stadt sieht wie neu aus. Wir haben,
     sagt Henriette, gute Winterreifen, vollendet Elisa. Du musst dir keine Sorgen machen.
    Auf der Fahrt schweigen sie die meiste Zeit und hören Musik. Leonard Cohen und Mozart. Immer im Wechsel. Als zum dritten Mal
     »In my secret life« läuft, fängt Henriette an zu reden. Elisa stellt den CD-Player leiser und ordnet sich auf der rechten
     Spur ein. Zuhören kann sie nicht, wenn sie über hundertzwanzig fährt.
    Klara war eine sonderbare Mutter, sagt Henriette. Sie hat sich breitgemacht und groß und stark, und alles, was je entschieden
     werden musste, war ihre Entscheidung. Mit siebzehn war ich noch ein vollkommen unselbständiges Mädchen und wusste nicht einmal
     genau, wie die Kinder in den Bauch kommen. Klara hat keine Gelegenheit genutzt, es mir zu erzählen. Als ich zehn war, wünschte
     ich mir eine Schwester, und um sie zu bekommen, habe ich zwei Gläser Senf genommen und mit dem Zeug die Wohnzimmerfenster
     eingeschmiert. Ich war festen Glaubens, dass der Klapperstorch kommt, wenn Senf an den Fenstern klebt, und dann ein Baby bringt.
     Mit zehn! Das muss man sich mal vorstellen. Klara hat mir den Hintern versohlt, aber sie hat mir nicht erzählt, dass der Klapperstorch
     keine Kinder bringt. Ich weiß nicht, warum. Ich weiß es einfach nicht.
    Mein Vater hat ein sogenanntes Aufklärungsgespräch mit mir geführt, als ich vierzehn war. Er holte mich dafürextra in sein Arbeitszimmer. Saß hinter seinem Schreibtisch und erzählte tatsächlich etwas über die körperlichen Unterschiede
     zwischen Jungen und Mädchen. Nein, er redete nicht über Sex. Sondern darüber, dass ein Mann und eine Frau sich lieben müssen
     und dass dann die Kinder kämen. Als ich aus dem Arbeitszimmer rauskam, wusste ich immer noch nicht genau, wie das geht. Nur,
     dass man sich lieben muss. Du meine Güte. Wir waren eine so prüde Familie.
    Ich habe irgendwann festgestellt, dass Klara sich ihren Büstenhalter mit Watte ausstopfte. Da dachte ich: Nicht alle Frauen
     kriegen eine Brust und war zutiefst enttäuscht. Erst viel später habe ich mir zusammengereimt, dass man ihr die Brüste amputiert
     hatte. Sie hat nie davon gesprochen. Aber vielleicht war das der Grund für ihre Prüderie. Die fehlenden Brüste.
    Siehst du, mir fällt es heute noch schwer, über so etwas wie Brüste zu reden. Ich bin verlegen und merke manchmal an deinem
     Lächeln, wenn wir beide miteinander sprechen, dass ich das Wort Sex immer noch wie eine Zahl zwischen fünf und sieben ausspreche.
     Daran ist Klara schuld. Klara mit ihren fehlenden Brüsten und ihrer Strenge. Sie hat versucht, mir beizubringen, dass die
     politische Übereinstimmung in einer Partnerschaft das Wichtigste sei. Und wenn sie so etwas erzählte, dachte ich an ihre mit
     Watte ausgestopften Büstenhalter und die damit verbundene Abwesenheit von Weiblichkeit. Ich versuchte, zu ergründen, was mein
     Vater und meine Mutter miteinander taten, wenn sie allein in dem großen Schlafzimmer waren. Was machte mein Vater ohne begehrenswerte
     Brüste an seiner Seite?
    Elisa blinkt rechts und fährt auf den Parkplatz einer großen Raststätte. Lass uns einen Kaffee trinken und etwas essen. Wir
     haben noch drei Stunden Fahrt vor uns.
    In der Raststätte setzen sie sich zu einem Ehepaar an einen Ecktisch. Die Ehefrau hat ihrem Mann mit zwei winzigen Spielzeugwäscheklammern,
     eine pinkfarben und die andere grün, ein Lätzchen ans Hemd geheftet. Sie füttert ihn mit großer Geduld. Winzige Häppchen verschwinden
     in seinem Mund. Dabei redet die Frau unablässig auf den Mann ein. Sie plappert geradezu und tut, als bezöge sie Henriette
     und Elisa in das Gespräch mit ein. Dem können sich beide nicht erwehren. Henriette hört gar nicht mehr auf zu lächeln, Elisa
     versucht geschäftig, den Inhalt ihrer Handtasche zu sortieren, und tut, als müsse sie gleichzeitig intensiv die Straßenkarte
     studieren. Der Mann mit dem Lätzchen sagt nichts, isst nur ununterbrochen und sabbert gleichzeitig die Hälfte des Essens wieder
     aus. Ein ums andere Mal wischt die Ehefrau ihm den mit Essen vermischten Speichel aus den Mundwinkeln und vom Lätzchen. Henriettes
     Lächeln zerspringt alle paar Sekunden in tausend Stücke, um von ihr sogleich sorgsam wieder aufgesetzt zu werden. Elisa spürt,
     wie ihr langsam übel wird und ein leichter Würgereiz in ihre Kehle steigt.
    Als das Ehepaar geht, der Mann händchenhaltend hinter
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