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Alle Zeit - Roman

Alle Zeit - Roman

Titel: Alle Zeit - Roman
Autoren: Kathrin Gerlof
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erschrocken. So was habe ich fast nie getan.
    Das Doppelzimmer in der zweiten Etage macht Elisa vollends traurig. So viel Früher, denkt sie, verkrafte selbst ich nicht.
     Sie geht zum Fenster und schaut auf die Berge und die schneebedeckte Wiese vor dem Hotel.
    Massage, ruft Henriette, Kosmetik und Fitness. Kann man alles hier machen. Kostet nicht viel. Sauna, schiebt sie ehrfürchtig
     hinterher. Wollen wir?
    Elisa nickt und lächelt und nickt und lächelt. Sauna machen wir gleich heute Abend noch. Vor dem Essen. Ich rufe an.
    An der Rezeption sind sie unwillig, versprechen aber, die Sauna anzuheizen. In einer Stunde, sagt Elisa und legt sich aufs
     Bett. Erzähl mir weiter von Klara.
    Henriette geht ins Bad, und Elisa kann hören, wie sie pinkelt. Es klingt fast wütend, wie sie das tut.
    Klara, ruft Henriette noch aus dem Badezimmer, hatte ihre eigenen Gespenster, was Männer und all das Drumherum anbelangte.
     Sie konnte mir gar nichts sagen dazu. In der Stadt, sagt Henriette, spült und dröhnt den Satz zu. Als sie ins Zimmer kommt,
     schaut Elisa fragend und hebt die rechte Augenbraue, bis sie einen kleinen stumpfen Winkel bildet.
    In der Stadt, fängt Henriette den zugespülten Satz noch einmal von vorn an, war Klara eine bekannte Person. Nomenklatura hat
     man das damals genannt. Sie gehörte zum eingeweihten Kreis, und als Stalin im März dreiundfünfzig starb, stand sie an seinem
     Ehrenmal zwei Nächte lang Wache. Vor der dritten Nacht hat sie gesagt, sie könne mich nicht noch einmal allein lassen. Da
     war ich ja erst elf und fürchtete mich vor der Dunkelheit.
    Wenn Klara abends fortging, habe ich mit allen Dingen in der Wohnung geredet, um mich zu vergewissern, dass sie keine Gespenster
     waren. Ich habe lange Gespräche mit dem Radio und der Kaffeekanne geführt. Kriegskinder sind so, hat Klara immer gesagt. Sie
     geraten in Panik, wenn einer laut pupst. Immerhin, pupsen hat sie sagen können, obwohl ihr sonst kein solches Wort über die
     Lippen geriet. Sie hat die Waschlappen nach Farbe und die Farben nach obenrum und untenrum eingeteilt. Aber pupsen konnte
     sie sagen.
    Henriette malt sich selbst bei dem Wort kleine rote Kreise auf die Wangen. Elisa lächelt und schaut weg.
    Also, sie hat gesagt, eine dritte Nacht Ehrenwache für Stalin geht nicht, und dafür haben sie ihr ein Parteiverfahren und
     sonst was Schlimmes angedroht. Da ist sie die dritte Nacht auch noch zum Ehrenmal. In der Stadt haben sie hinter ihrem Rücken
     Russenflittchen geflüstert. Ich bekam das manchmal in der Schule zu hören. Deine Mutter ist doch ein Russenflittchen, haben
     sie gesagt, und ich bin losgegangen wie eine Furie und habe mich geprügelt. Woher die das hatten? Ich weiß es nicht. Vielleicht
     war ja etwas dran, in den Nachkriegsmonaten sind viele Frauen zum Fliegerhorst gegangen, um sich Essen zu besorgen. Umsonst
     werden sie es nicht bekommen haben, denke ich. Und mein Vater, der kam ja erst achtundvierzig aus der Gefangenschaft. Ich
     glaube, es war achtundvierzig. Und als er kam, wog er dreiundvierzig Kilo und sah aus wie ein Hungerleider. Klara hat ihn
     gefüttert und gemästet und wie eine Gans gestopft. Wo immer sie das ganze Zeug her hatte, das kann es nicht für Geld gegeben
     haben. Und Klara war eine schöne blonde Frau. Mit zwei intakten Brüsten. Damals noch. Blonde Frauen mit intakten Brüsten haben
     den Russen gefallen.
    Henriette packt eine Saunatasche, und Elisa erhebt sichseufzend vom Bett. Sie ist müde, aber Sauna ist versprochen. Und danach ein Abendessen im Hotelrestaurant.
    Morgen, sagt Henriette, wollen wir sehen, ob das Haus noch steht.
    Elisa hofft, dass es so sein möge. Kein Haus mehr wäre eine Katastrophe. Henriette würde wieder schweigen. Während Klaras
     Verstand weiter verschwindet.

 
    Den Tanztee hat sie wunderbar überstanden. Zwei Hänger nur und eine wirklich peinliche Situation. Alles in allem eine gute
     Bilanz. Der Alzheimer konnte immerhin drei Runden mit ihr aufs Parkett legen. Gut hat er das gemacht, muss früher mal ein
     richtiger Charmeur gewesen sein. Wenn nur dieser Mensch da vorn nicht gewesen wäre. Der die Musik machte und dabei tat, als
     sei er in einen Kindergarten geraten. Drei Mal hat er dieses Lied vom Abschied gespielt. Abschied ist ein scharfes Schwert
     oder so ähnlich. Drei Mal zusehen müssen, wie jemand mit einem Mikrofon in der Hand über die Tanzfläche hampelt, um senilen
     alten Frauen irgendwelche Liedzeilen ins Ohr zu säuseln, und
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