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Alle Zeit - Roman

Alle Zeit - Roman

Titel: Alle Zeit - Roman
Autoren: Kathrin Gerlof
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bunten Porzellanengel. Bauer e2 auf e4, murmelt sie und schiebt die elfenbeinfarbene Figur zwei Felder
     nach vorn. Königsgambit hat er doch immer gern gespielt. Kann man nicht viel falsch machen. Bauer e7 auf e5. Erst das Kanonenfutter
     nach vorn und dann die Offiziere hinterher. Hauptsache, man hat die Initiative ergriffen.
    Sie nimmt ihr Gebiss aus dem Mund und legt es neben das Schachbrett. Ich mag sizilianisch. Alles vergessen. Springer als Nächstes,
     aber dann wird es schon schwer.
    Hinter ihrem Rücken geht die Tür auf. Frau Simon?
    Ist nicht ihr Name. Ihr Name liegt im See. Hat der nette Polizist gestohlen.
    Frau Simon? Ihre Medizin müssen Sie noch. Warum haben Sie das Gebiss rausgenommen? Sie sollen es tragen. Tag und Nacht. Wollen
     Sie jetzt nicht schlafen gehen? Es ist spät.
    Die redet immer, als hätte sie einen Sack voll Fragezeichen geschenkt bekommen. Das Gebiss drückt, und die Medizin macht Verstopfung.
     Dem Gummibaum scheint sie auch nicht zu bekommen. Der wächst nicht mehr.
    Jetzt schwappt wieder so ein Einfall. Das gräbt sich immer durchs Hirn an die Oberfläche, und plötzlich. Die Wiener Partie.
     Hat sie mal auswendig gelernt, entsprach ihrem Temperament. Irgendwie. e2 auf e4, e7 auf e5,Springer b1 auf c3. Weiß versucht die Zentrumsfelder d5 und e4 zu kontrollieren und bereitet einen Angriff auf e5 vor. Elastische
     Kräfteentfaltung hat sie das genannt. Wahrscheinlich alles aus einem Schachbuch abgelernt. Elastische Entfaltung. Jetzt ist
     alles schon wieder weg. Der nächste Zug im Dunkeln. Kann sie das Gebiss auch wieder reinstopfen.
    Wer war die junge Frau heute auf der Bank? An die kann sie sich noch erinnern. Hatte grünes Haar. Oder blond. Und einen dicken
     Bauch. So dick wie eine? Jetzt bitte, das Wort her. So dick wie eine Teekanne. Fühlt sich schief an im Kopf. Teekannen sind.
     Heiß. Kann nicht ihre Tochter gewesen sein. Die ist doch tot, oder? Er wüsste das. Aber er ist auch tot. Keiner mehr da, für
     den sie gedächtnissen muss.
    Unsere Oma Simon, hat die Pflegerin letztens gesäuselt. Erfindet immer neue Wörter. Dumme Kuh die. Bin nicht Oma geworden.
     Und will auch nicht so genannt werden. Neue Wörter, ja. Weil die alten alle im See ertrunken sind.
    Die Springer muss sie behalten. Waren ihre Lieblingsfiguren. Kreuz und quer übers Spielfeld. Hat immer darauf geachtet, bis
     zum Schluss einen Springer zu haben. Die ganze rustikale Kavallerie. Nebenan der Alte konnte auch gut Schach. Bis vorgestern.
     Da hat er sich abgelebt. Ist schon in der Kiste rausgetragen worden. Mit den Füßen nach vorn, sagen sie hier.
    Sie stopft das Gebiss wieder in den Mund, rammt es rein, bis ein Tropfen Blut kommt. Der schmeckt nach Metall. Wie der Schlüssel,
     den sie als Kind immer um den Hals tragen musste. Später hat sie manchmal beim Essen gesagt, das schmecke nach Schlüssel.
     Und ist schief angeguckt worden dafür. Kein Essen kann nach Schlüssel schmecken.
    Sie steht auf und präpariert sich für die letzte Runde. Bereitet sich vor. Warme Hausschuhe anziehen. Die klebenwie zwei tote Tiere an den Füßen. Warme Jacke, Stock. Gebiss sitzt. Raus aus dem Zimmer und den ganzen Gang runter. Bis zum
     Fenster. Aus den Zimmern stöhnt und furzt es.
    Am Fenster steht schon ein Alzheimer. Murmelt vor sich hin. Irgendwas von Zitronen und Zügen. Nein, ein Gedicht, die Reste
     davon. Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn? Hat sie doch auch schon mal. Kanonen blühn, Zitronen grünen. Gute Übung
     für den Kopf. Aber wo hat sie das? Sie sollte sich die Sachen aufschreiben, die ihr noch einfallen. Hat sie schon mal probiert.
     Aber wenn sie dann draufguckt, nach Tagen, ist kein Sinn mehr da. Lauter Zettel in ihrem Zimmer, ohne Sinn, vollgeschrieben,
     aber leer. Wie ihr Kopf.
    Der Alzheimer dreht sich um, guckt durch sie durch, als bestünde sie aus Reispapier.
    Hallo, sagt sie und klappert ein bisschen mit den Zähnen. Auf Vergnügungsreise?
    Der Alte sieht erschrocken aus. Hab nichts gemacht, murmelt er. Nur zwei Bier. Er hält sein Zahnputzglas in der Hand.
    Sie dreht sich um und geht den Gang entlang zurück ins Zimmer. Sterben dauert viel länger als Leben, murmelt sie. Da hat doch
     jemand gepfuscht. Sie legt sich angezogen ins Bett, knipst das Licht aus an einer Schnur, die extra für Lahme an der Wand
     angebracht wurde. Wie heißt der Alzheimer mit dem Zahnputzglas? Ich bin hohl im Kopf. Ein Hohlkopf. Hohl im Bein. Ein Hohlbein.
     Den gab es doch. Irgendeinen Hohlbein.
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