Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Zeit - Roman

Alle Zeit - Roman

Titel: Alle Zeit - Roman
Autoren: Kathrin Gerlof
Vom Netzwerk:
sich nicht.
    Ich bin kein Kind mehr, Svenja. Meine Großmutter,Henriette, war so alt wie ich, als sie meine Mutter bekam. Und meine Mutter, Elisa, hat sich dann Zeit gelassen. Sie musste
     sich mindestens einmal pro Woche von ihrer Mutter anhören, wie schlimm das war, mit siebzehn ein Kind zu bekommen. Das war
     auch schon meiner Urgroßmutter passiert, musst du wissen. Klara, die wahrscheinlich längst tot ist und von der es lauter Geschichten
     gibt und nur ein einziges Foto. Klara, mit der niemand mehr etwas zu tun haben wollte, weil sie sich nach dem Krieg so sehr
     mit den Roten gemein gemacht hat. Klara, die Kommunistenbraut. Das Russenflittchen. Meine Mutter hat mir Geschichten von all
     den anderen Müttern erzählt, und ich erzähle sie dir.
    Juli legt das rechte Ohr ganz dicht an Svenjas Mund. Sie ist sich nicht sicher, was die Lebenszeichen eines Kindes sind. Atmen
     gehört offensichtlich zu den nicht erkennbaren. Man spürt nichts, nicht mal mit dem Ohr über dem Mund. Juli stupst mit dem
     Zeigefinger an die linke Wange des Mädchens. Es seufzt leise.
    Keine Großmutter, keine Urgroßmutter, du wirst dein Taschengeld immer nur von mir bekommen, Svenja. Elisa und Henriette sind
     tot. Seit zwei Jahren schon. O Gott, wie ich sie vermisse.

 
    Henriette ist unsicher. Bei allem, was sie tut, spürt sie diese Unsicherheit. Sie schafft es nicht einmal, ohne Angst allein
     mit der S-Bahn in die Stadt zu fahren. Und so passiert es natürlich auch prompt, dass sie sich verfährt. Zehn Mal hat sie
     sich auf dem Stadtplan alles angeschaut. Wie sie zu Elisa kommt, wo sie einsteigen und wann sie aussteigen muss. Und dann
     sitzt sie doch in der falschen Bahn. Oder in der richtigen, aber die zwingt sie zwischen zwei Stationen in den Schienenersatzverkehr.
     Und das Umsteigen in den Bus gerät zum Desaster. Henriette fährt in die falsche Richtung und landet irgendwo. Völlig unbekanntes
     Gelände für sie. Sie bittet einen Mitreisenden, ihr zu erklären, wie sie wieder an den Ausgangspunkt des Schienenersatzverkehrs
     kommt. Zurück zum Potsdamer Platz. Die Erklärung ist ganz einfach. Henriette schafft es, sich alles zu merken, steigt in den
     nächsten Bus, fährt zurück zum Potsdamer Platz, der in ihren Augen so groß wie die halbe Welt ist, und steht verloren zwischen
     zwei Kinos an einer Haltestelle, die ihr völlig unbekannt ist.
    Henriette gibt auf und ruft bei Elisa an. Die wartet seit einer halben Stunde auf dem S-Bahnsteig und guckt nach allen Frauen,
     die ihre Mutter sein könnten.
    Bleib da stehen, wo du bist, sagt sie. Ich komme. Wird vielleicht zehn Minuten dauern. Nicht ungeduldig werden und nicht fortlaufen.
    Henriette nickt. Das kann Elisa nicht sehen. Aber sieweiß, dass die Mutter stehen bleiben wird, wo sie ist. Schon aus Angst.
    Zehn Minuten später ist Elisa da und Henriette fast erfroren. Wie sie da wartet, mit bläulichen Lippen und kreideweißer Haut,
     tut sie Elisa leid. Alles vergessen. Die Wut auf die noch so junge und schon so verwirrte Mutter. Nicht verwirrt, eher verunsichert
     bis ins Mark. Elisa kann sich das nicht erklären. Sie ist ganz anders und doch von gleichem Fleisch und Blut. Orientieren
     kann sie sich auch nicht. Aber ihr fällt immer etwas ein, und sie kennt nicht diese Angst an ihr unbekannten Orten. Henriette
     erstarrt dann völlig, wenn sie einen Ort nicht erkennt. Sie vergisst, dass man zur Not auch noch in ein Taxi steigen kann
     und die Adresse ansagt und gefahren wird, wohin man möchte.
    Elisa sieht ihre bleiche, blaulippige Mutter an und fragt sich, wie es dazu kommen konnte. Hat Klara Schuld, die verschwundene,
     verleugnete, verdammte Großmutter? Hat sie aus Henriette dieses Nervenbündel gemacht, das Katastrophen herbeiredet und herbeidenkt,
     als seien alle nur für sie vorbereitet?
    Elisa nimmt Henriette in den Arm und dann an die Hand und geht mit ihr in ein Café. Sie bestellt eine heiße Zitrone und eine
     heiße Schokolade und reibt Henriettes Finger, bis sie wieder Farbe bekommen und sich ein kleiner Glanz in Henriettes Augen
     schleicht.
    Morgen gehen wir auf die Reise, sagt Elisa und lächelt. Auf die Reise in die Vergangenheit, freust du dich?
    Es liegt viel Schnee dort, und ich glaube, das Haus steht nicht mehr. Was meinst du, Elisa, wird es noch stehen? Ich habe
     Bilder mitgebracht, von damals. Henriette kramt in ihrer schwarzledernen Handtasche und holt einen Briefumschlag heraus. Sie
     legt die Fotografien chronologisch auf dem Tisch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher