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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika
Autoren: Joachim Meyerhoff
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kämpfte mich Windung für Windung weiter hinab durch diese Spirale der Demütigung. Mein Bein knickte weg, verhedderte sich mit anderen Beinen, verhakte sich mit anderen Armen. Wir wurden langsamer, und schließlich standen wir still. Ein in sich verkeilter Haufen schreiender Kinder verstopfte die Rutsche. Mit den Füßen voran prallten die nächsten Rutscher in den Pfropfen und drückten ihn Meter für Meter durch den roten Plastikdarm. Da hörten die Kurven plötzlich auf, es ging noch steiler bergab, fast im freien Fall, und das Kinderknäuel wurde auseinandergerissen. Mit letzter Kraft schoss ich, ein völlig verstörter Korken, aus der Röhrenöffnung heraus und kopfüber in den Sand. Auf mich drauf zornige, heulende, um sich tretende und schlagende Bestien. Der Haufen entwirrte sich rasch, sie klopften sich den Sand von den Hosenbeinen, wischten sich die Tränen ab und rannten zum Fuß der Rutsche, um sich vom Förderband für einen zweiten, sicherlich glücklicheren Versuch hinauftragen zu lassen.
    Ich stand auf. Im Sand sah ich meinen Abdruck. Klar umrissen, wie in einem Krimi, wo die Erschossenen mit Kreide ummalt werden. Ich hatte Sand im Mund. Viel Sand. So, als hätte mir jemand eine gehäufte Schaufel hineingeschippt. Ich schleppte mich ein Stück weiter, setzte mich auf den Rasen. Diese scheiß Lederhose! Meine Mutter war schuld. Keiner in der Schule trug Lederhosen. Nur ich. Wie hatte ich ihr nur glauben können, dass man stolz darauf sein müsse, etwas anzuziehen, was sonst keiner anzieht. Ein Kleidungsstück, das nichts weiter war als eine nostalgische Verklärung, eine sentimentale Remineszenz an ihre ach so idyllische Kindheit in Bayern, die ich jetzt im Norden auszubaden hatte. Immer hatte ich diese Lederhose geliebt, jetzt hasste ich sie.
    Die Lehrerin kam zu mir, und auf ihre Frage »Was ist denn? Warum rutschst du denn nicht?«, antwortete ich: »Ich kann nicht!« Der Sand knirschte zwischen meinen Zähnen. »Wie, du kannst nicht? Das ist doch ganz einfach!«, lachte sie, »rutschen kann doch jeder!« Ich trampelte mit den Schuhen auf dem Rasen herum und warf mich nach hinten. »Eben nicht! Eben nicht! Eben nicht!« Die Lehrerin kannte meine Zornattacken, deren Auslöser oft kaum zu durchschauen waren. Sie sagte: »Na, dann kann ich dir auch nicht helfen. Guck mal da, da sind auch noch liebere Rutschen!« Dieses »liebere Rutschen!« gab mir den Rest. Ich sprang auf und rannte davon. Ich versuchte, mir die Du-darfst-so-oft-rutschen-wie-du-willst-Karte vom Hals zu reißen. Ich weiß noch, wie ich zornig an ihr zerrte, sie aber eben nicht riss. Ich sie mir über den Kopf ziehen musste und durch mein unkontrolliertes Rupfen mit dem Band mein eines Ohr schmerzhaft umklappte. Ich warf sie weg und rannte zum Bus. Der Busfahrer hatte die Bustür offen und lag ausgestreckt in einem Liegestuhl. »He, was ist denn los? Was vergessen?« Ich log: »Ich bin krank und soll mich ausruhen!« »Na, dann geh mal rein!« Ich ging zu meinem Platz. Da lag noch das Papier meines Lieblingsschokoriegels. Ich warf mich in meinen Sitz. Von meinem Platz aus sah ich den Gipfel der Riesenrutsche und Kinderköpfe, Finger im Maschendraht der Gipfelplattform.
    Auf der Rückfahrt schwärmten und johlten alle durcheinander, prahlten und übertrumpften sich gegenseitig mit den wildesten Rutscherlebnissen: »Ich bin die Riesenrutsche auf dem Bauch …«, »Ich dachte, ich flieg voll aus der Kurve!«, »Und wie wir dann alle zusammen …!«. Meine Mitschüler aßen ihren Proviant. Drehten die Wurst- und Schinkenbrote mit ihren geschickten Fingerchen hin und her und knabberten das Weiche von der Rinde. Und dann schlief die ganze Horde einfach ein. Erlebnisgesättigte Stille. Dem Jungen neben mir entglitt die halb geschälte Banane, wurde nach und nach bräunlich, während der Bus gemächlich Richtung Heimatstadt fuhr. Die Lehrerin plauderte mit dem einhändig fahrenden, sonnenverbrannten Busfahrer, lachte so komisch, wie ich sie noch nie lachen gehört hatte, und meine Mitschüler zuckten in ihren Träumen. Die rutschen, dachte ich, wahrscheinlich immer noch. Gedurft hätten sie. Denn das Tagesticket hing jedem von ihnen wie eine Medaille um den Hals.
    Auf der Zugfahrt von der Stadt, in der ich nicht geboren, aber aufgewachsen bin, nach Hamburg gibt es erst auf den zweiten Blick einiges zu sehen. Nach fünf Minuten kam ein kleiner See, der sogenannte Hinterteich, in dem mein ältester Bruder oft mit lebenden Köderfischen angelte.
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