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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Eindruck erweckt, als wäre es ein riesiges Glück, wenn sie ausgerechnet mich auswählen würden. Dabei sollten meine Eltern, beziehungsweise meine Großeltern viel, viel Geld dafür bezahlen, um mir dieses Gefühl, einer der Auserwählten zu sein, zu finanzieren. Ich wollte es so sehr. Ich wollte unbedingt weg. Weit, weit weg. Es waren Dinge vorgefallen, die ich hinter mir lassen wollte.
    Was mich an diesem Nachmittag erwarten würde, wusste ich nur ungefähr: Ein Sprachtest, wahrscheinlich ein paar Gruppenspiele, um herauszufinden, ob ich tatsächlich der neugierige, selbstbewusste, natürlich auch rücksichtsvolle junge Mann war, als der ich mich beworben hatte. Dann noch ein Einzelgespräch und ein umfassender Fragebogen. Der Fragebogen war angeblich das Wichtigste, da auf ihn hin die passende Gastfamilie ausgesucht wurde. Und dann hatte ich in Hamburg auch noch etwas ganz anderes vor. Ich hatte einen Plan, der mich ebenso, wenn nicht sogar noch mehr in Aufregung versetzte als mein erhofftes Auslandsabenteuer.
    Nach einer guten halben Stunde Fahrzeit kam ich nach Rendsburg. Nach Verlassen des Bahnhofs macht der Zug eine sehr elegante Kurve, schraubt sich in einer weiten Schleife auf eine Höhe von zweiundvierzig Metern und überquert auf der in Schleswig-Holstein durchaus als Topsehenswürdigkeit einzustufenden Rendsburger Hochbrücke den Nord-Ostsee-Kanal, der früher Kaiser-Wilhelm-Kanal hieß und die Ostsee mit der Nordsee verbindet. Diese Brücke stammt aus derselben Zeit wie der Eiffelturm, vielleicht etwas später. Die Eisenkonstruktion und die schweren Metallnieten lassen daran auch keinen Zweifel. Von dieser Brücke aus hat man ganz unvermittelt einen herrlichen Blick über das weite Land. Man sieht den Möwen auf den Rücken und, wenn man Glück hat, eines der mächtigen Schiffe, die auf diesem künstlichen Fluss vollkommen deplatziert wirken. Kaum ein norddeutscher Kalender verzichtet auf die optische Merkwürdigkeit, einen Ozeanriesen durch die Rapsfelder fahren zu lassen. In großer Höhe überfährt man kurz darauf einen Stadtteil. Dieser Stadtteil heißt, da er ganz von der Eisenbahn umrundet wird, also zur Gänze innerhalb des Schienenkreises liegt, Schleife. Rendsburg-Schleife. Ich beugte mich ein wenig vor und hatte einen guten Blick auf die direkt unter der Brücke gelegenen, aus der Vogelperspektive hübsch aufgereihten Rendsburger Backsteinhäuschen. Die Bewohner dieser Häuschen hatten jahre-, wenn nicht sogar jahrzehntelang einen erbitterten Kampf gegen die Deutsche Bahn geführt, da die Fäkalien der Bahnreisenden in ihre Vorgärten fielen. Nicht im Ganzen natürlich, sondern durch die Schwellen und das Tempo zu Kackepartikeln zerhäckselt. Immer und immer wieder konnte man das damals in der Zeitung lesen und auch sehen. Reißerische Schlagzeilen wie »Kot sprengt Grillparty!« oder Fotos mit von Ekel erfüllten Hausfrauen vor Wäschespinnen, die gesprenkelte Handtücher hochhielten. Man sah ehrwürdige Damen von der Haustür bis zum Auto rennen – sie rannten ja eh immer nur noch durch ihre Vorgärten, als stünden sie unter Gewehrfeuer, rannten zur Garage, nahmen sogar den Schirm –, denen winzige, schmierige oder auch krümelig braune bis ockerfarbene Scheißestückchen in die frisch ondulierten Frisuren geweht waren. Endgültig eskalierte die Situation, als sich ein circa sechs Kilogramm schwerer gefrorener Kotklumpen oder richtiger -zapfen, der sich an einer Eisenbahnschwelle gebildet hatte, löste, vierzig Meter in die Tiefe sauste, ein Carport durchschlug und wie eine endgültige Kriegserklärung, ein von der Deutschen Bahn geschleudertes Stuhlgang-Tomahawk, im Autodach einer fünfköpfigen Familie stecken blieb. Dieses Foto – immer wieder fiel damals diese Formulierung – ging um die Welt. Und so wurde Rendsburg kurzzeitig berühmt. Weltberühmt dafür, dass es ein Auto hatte, in dessen Dach ein ein Meter fünfzig langer Dolch aus Scheiße steckte. Die über Jahre gedemütigten Rendsburger – der Wert ihrer bespritzten Immobilien fiel und fiel – waren durch diese widerliche Heimsuchung zu einer eingeschworenen Leidensgemeinschaft zusammengeschweißt worden. Nun hatten sie endgültig genug. Noch während der stinkende Zacken im Auto zu schmelzen begann, in den Kindersitz tropfte, erkletterten die Verwegensten und Zornigsten von ihnen die Hochbrücke und setzten sich im eisigen Winterwind auf die Gleise. Die Polizei schritt nur sehr zögerlich ein. Was nicht verwunderlich
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