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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Zweierreihenformation quälten wir uns über den Parkplatz zu den Kassen. Jeder bekam an einem Band eine Eintrittskarte um den Hals gehängt. Man durfte rutschen, so oft man wollte. So oft man wollte! Ein Rutschenparadies.
    Nachdem wir einzeln durch die Drehkreuze geschleust worden waren, konnten wir endlich losstürmen. Ich war schnell und überholte einige meiner Mitschüler auf dem Weg zum Eingang der Riesenrutsche. Am Fuß der Rutsche legte ich meinen Kopf in den Nacken. Sie war viel höher, als ich es für möglich gehalten hatte. Ich stellte mich in die Schlange und betrat die Rolltreppe, die eher eine Art Förderband war mit einem sich in die Höhe schiebenden Handlauf. Nach knapp fünf Metern erreichte man eine umgitterte Plattform, musste um die Ecke gehen und sich auf das nächste Förderband stellen. So ging es viele Male, bis man oben war. Windig war es, dachte ich, ganz klar andere thermische Bedingungen als unter mir im Flachland. Man konnte weit sehen. Bis zum Hafen. Eine Ampel sprang alle paar Sekunden von Rot auf Grün und regelte so den Rutschfluss. Ich stellte mich an. Ich schubste und drängelte, da ich von hinten geschubst und gedrängelt wurde. Nur noch zwei vor mir. Grün! Wie von einem Strudel erfasst, wurde das Kind, das an der Reihe war, in die Tiefe gesogen, verschwand im leuchtenden Plastikmaul. Die Ampel sprang auf: Rot! Dann wieder: Grün! Das Mädchen vor mir zögerte, drehte sich kurz um und sah, dass es kein Zurück mehr gab. Die geballte, vorwärtspulsierende Sehnsucht der nachdrängenden Kinder ließ ihr keine Wahl. Sie setzte sich, wollte vorsichtig rutschen, doch das Gefälle interessierte sich nicht für ihre Bedenken und strudelte auch sie hinab.
    Jetzt war ich an der Reihe. Rot! Warum war es so ewig lange Rot? Dann: Grün! Mutig, mit zwei kräftigen Schritten Anlauf, warf ich mich in den Rutschkanal. Ich warf mich hinein und – blieb am Boden kleben! Mit einem quietschenden Bremsgeräusch saugte sich meine Hose an der Rutsche fest. Ich gab mir Schwung mit den Händen, doch ich kam nicht von der Stelle. Obwohl es so steil war. Sobald meine Hose die spiegelglatte Plastikabfahrt berührte: Stillstand. Ich begriff nichts. Ich kam auf die Füße und lief im Krebsgang die nächste Windung hinunter. Setzte mich, stieß mich, wie ein versehrter Leprakranker mit umwickelten Stümpfen, mit den Händen voran. Nichts, einfach nichts. Ich rutschte keinen Millimeter.
    Genau in dem Moment, als mir klar wurde, warum ich ein Aussätziger war, warum mich der große Rutschenfluch ereilt hatte, als mir dämmerte, dass es keine Strafe Gottes war, sondern dass es eine ganz und gar nicht weniger schlimme Erklärung gab, genau in diesem Moment, als mir klar wurde, dass die Hose, die kurze Hose, die ich mir am Morgen völlig sorglos, ja heiter herausgesucht hatte, eine von mir geliebte mit Hosenträgern und Hirschhornhirsch verzierte Lederhose, der Grund für meine vollkommene Rutschuntauglichkeit war, genau in diesem Moment, als mir dies alles klar wurde und mich mit großem Kummer, ja Entsetzen überschwemmte, traf mich mit voller Wucht, Schuhe voran, der nächste rasende Rutscher wie ein Projektil im Rücken. Er schrie mich an: »Rutsch, Mensch, rutsch!« Ich brüllte zurück: »Ja, wie denn? Wie denn? Ich kann nicht. Ich kann doch nicht!« »Mensch, los! Der Nächste kommt gleich!« Ich versuchte, mich hinzustellen, kam auf die Füße und stieß mir den Kopf. Gebückt stolperte ich ein Stück den abschüssigen Tunnel hinunter. Ich fiel nach vorne und landete auf dem Bauch. Der Lederlatz quietschte, das handgeschnitzte Hirschkopfemblem darauf knirschte übers Plastik. Ich war eine einzige Vollbremsung. Nichts an mir rutschte. Meine nackten Oberschenkel bremsten, meine Schuhe, meine Hände. Da rauschte das nächste Kind in das Kind hinter mir, prallte mit dem Gesicht gegen die Röhre und brüllte los: »Ahhhhhhh!« Durch die Enge verdoppelte und verdreifachte sich das Gebrüll. Eine Sandale traf mich am Hals, direkt in mein Ohr schrie es: »Setz dich hin, du Idiot! Jetzt rutsch doch endlich, du Spasti!« Auch meine eigenen Verzweiflungsschreie türmten sich auf, Hall und Widerhall, und gellten mir in den Ohren. Panik ergriff mich. Ich rannte und fiel, quietschte und stieß mich die Riesenrutsche hinunter. Nach jeder Serpentine erwartete ich den rettenden Ausgang, Licht am Ende des Rutschentunnels. Doch es nahm und nahm kein Ende. Hinter mir staute sich eine keifende minderjährige Meute, und ich
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