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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika
Autoren: Joachim Meyerhoff
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mich, während ich mit meinem Klumpfuß aus Matsch durch den Wald hetzte, nicht nur überall von außen, sondern auch von innen kratzte. Ich bräuchte irgendeine Bürste, eine Bürste mit einem langen Stiel, so wie eine Klobürste, doch noch länger, mit der ich mich tief, tief drinnen kratzen könnte. Sogar mein Gehirn juckte. Ich rannte und rannte, doch müde wurde ich nicht. Gegen meine Kondition war ich chancenlos. Ich kam ins sogenannte Wickeltal. In den abgestorbenen Zweigen der Tannen hatten sich einzelne Dunstschwaden verfangen. Je weiter ich in das Tal hineinlief – ein wirkliches Tal war das ja gar nicht, nur ein eingezwängter Weg samt Rinnsal –, desto dichter wurde der Nebel. Plötzlich sah ich nichts mehr. Hörte nur noch meine feuchte Schuhzunge wie einen Bluthund um meine Füße herum schmatzen. Nach nur wenigen orientierungslosen Schritten löste sich der Nebel wieder auf und ich erkannte den Weg und wo ich hintrat. Wie von Sinnen raste ich noch ein paar Meter weiter. Und dann? Dann blieb ich plötzlich stehen! Einfach so. Ohne dass ich darüber nachgedacht hatte, ohne dass ich mich dafür entschieden hatte. Ich blieb stehen. Mitten im klammen Wald, hinter mir der Nebel, über mir diese gestaute, graue Wolkendecke. Lange stand ich so da und wusste nicht, ob ich gelangweilt, zornig oder todunglücklich war.
    Einige Tage später fragte Randy mich, ob er mit mir auf den Friedhof zum Grab meines Bruders gehen dürfe. Ich sagte: »Nein!« Am nächsten Tag fragte er mich wieder. Ich sagte ihm, dass ich nur ein einziges Mal da gewesen wäre, bei der Beerdigung, und seitdem nie wieder. Gräber, sagte ich, würden mir nichts bedeuten. Aber er wollte es unbedingt.
    Zwei Tage später, er hatte mich immer und immer wieder bedrängt, gab ich nach, und er fuhr mich das kurze Stück mit dem Auto meines Vaters zum Friedhof. Ich war mir sicher, dass ich den Weg zum Grab ohne Weiteres finden würde. Doch in der Reihe, in der ich suchte, war es nicht. Ich war irritiert. Ging einen anderen Weg. Wieder nichts. Randy folgte mir. »Wie sieht es denn aus?«, fragte er. »Ein weißes Marmorkreuz. Eine weiße Marmorplatte im Boden mit seinem Namen drauf. Wie sie es bepflanzt haben, weiß ich nicht.« Ich wunderte mich über meine Gereiztheit. Wie konnte es sein, dass ich das Grab meines Bruders nicht fand? Da war der Gießkannenständer, da die Wiese, da die Birkenallee. Aber das Grab fehlte. Randy rief mich: »Ich glaub, ich habs.« Ich sah ihn nicht. Ich ging um eine große Hecke herum. Stolperte über einen im Boden eingelassenen Wasseranschluss. »Wo bist du denn?« Er rief: »Hier.« Er war ganz nah, aber ich sah ihn nicht. »Ja, wo denn, verdammt noch mal.« Ich wusste nicht, woher seine Stimme kam. »Randy, wo bist du?« Lachend kam er zwischen zwei Büschen hervor: »Hier ist es.«
    Mir war der Platz völlig fremd. Da konnte es doch nicht sein. Ich folgte ihm zwischen den Büschen hindurch und sah es. Das noch sehr weiße Marmorkreuz und die Marmorplatte mit dem Namen meines Bruders. Wir standen vor dem Grab. Randy sagte leise: »Sieht schön aus.« Ich setzte mich auf den Weg vor das Grab. Randy setzte sich neben mich. Auf dem Kreuz war, und davon hatte ich nichts gewusst, das hatten mein übrig gebliebener Bruder und meine Eltern vergessen, mir zu erzählen, eine Zeile eingraviert: »Die Liebe höret nimmer auf«.
    Ich legte meinen Kopf in Randys Schoß, spürte den Stoff der Anzughose. Er strich mir mit seiner Hand über den Rücken.
    Bei dem Autounfall war nicht nur mein Bruder ums Leben gekommen. Ein Lastwagenfahrer hatte hinter einer Hügelkuppe gehalten, um mitten in der Nacht zwei Anhalterinnen herauszulassen. Er hatte sogar das Licht des Lastwagens ausgeschaltet. Mein Bruder saß zusammen mit seiner Freundin auf dem Rücksitz. Sie kannten sich erst wenige Wochen. Der Wagen schleuderte unter den Laster. Am Steuer saß der beste Freund meines Bruders. Er überlebte unverletzt. Es war spät. Sie waren in einer Diskothek gewesen. Die Freundin meines Bruders starb noch an der Unfallstelle. Mein Bruder starb im Krankenhaus. Der Unfall war 1985. Das ist jetzt mehr als fünfundzwanzig Jahre her.
    Der Freund lebt in Hamburg und ist Arzt geworden. Ein Kniespezialist. Meine Mutter hatte sein Bild in einer Fachzeitschrift gesehen und es mir gezeigt. Plötzlich sah ich, wie alt mein Bruder jetzt wäre.
    Ich vergesse immer, dass er älter geworden wäre. Mittlerweile bin ich ja viel älter als er. Schon lange bin ich
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