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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika
Autoren: Joachim Meyerhoff
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gelernt hatte, Truthahn, und langsam nahm er etwas zu. Während ich in der Schule war und meine Eltern arbeiteten, machte er lange Spaziergänge mit unserem Hund.Unser Hund war schon alt. Lag tagelang hinterm Sessel, schnarchte, roch schlecht und grunzte im Schlaf wie ein Schwein. Von dem Tag, an dem Randy bei uns auftauchte, verjüngte sich der Hund. Randy wusch ihn. Seifte ihn von oben bis unten ein und föhnte ihn trocken. So hatte ich unseren Hund noch nie gesehen. Duftend, fluffig wackelte er jugendlich hinter Randy her über die Straße in den Wald davon. Fast drei Monate blieb Randy Hart bei uns und lebte im Zimmer meines Bruders. Lag auf oder in seinem Bett und las aus seinem Regal ein Buch nach dem anderen. Mein Vater besorgte ihm eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung. Er bekam einen Job in der Psychiatriegärtnerei und pikierte dort Weihnachtssternsetzlinge.
    Randy fragte mich eines Tages, ob mein ältester Bruder seine Angelausrüstung mit nach München genommen hätte. Das war nicht der Fall und ich zeigte ihm das Kellerkabuff, in dem die Angelruten und mehrere Angelkästen standen. Randy rief meinen Bruder in München an und bat ihn darum, vielleicht eine der Angelruten benutzen zu dürfen. Mein Bruder hatte nichts dagegen, sagte aber zu mir am Telefon: »Wehe, dein Killerfreund verschlampt was, dann musst du mir das ersetzen!« Randy erzählte mir, dass er früher in Wyoming oft mit seinem Vater angeln gewesen war, und versprach, auf alles gut achtzugeben. Er las die Angelbücher meines Bruders, machte sich mit der Gegend vertraut und reparierte das Fahrrad meines mittleren Bruders, das schon vor meinem Amerikajahr mit Plattfuß in der Garage gestanden hatte. Dann radelte er davon und kam Stunden später mit seiner Beute nach Hause. So viel wie Randy hatte mein Bruder nie gefangen. Wenn ich mit meinem Bruder telefonierte und erzählte, Randy wäre mit einem kapitalen Hecht aus dem Hinterteich nach Hause gekommen, sagte er ungläubig: »Echt? Fünfundsiebzig Zentimeter? Vielleicht hat er ihn im Fischgeschäft gekauft!«
    Randy lud mich ein, mit ihm eine Nacht genau an dem See zu verbringen, an dem ich damals meine Freundin auf dem Nachbarsteg zum ersten Mal gesehen hatte, dem Langsee. Randy sagte: »Ich hab gelesen, dass es dort fantastische Aale geben soll. Aale fängt man am besten nachts. Kommst du mit?« Am Samstagabend machten wir uns auf den Weg zum See. Ich war lange nicht mehr da gewesen. Die Bretter vom Steg waren noch morscher geworden. Ein Boot, halb versunken, randvoll mit Wasser, lag daneben. Wir luden unsere Sachen ab und Randy ging nach vorne, an die Stegkante, und sah über das Wasser. Bevor wir die Angeln zusammensteckten, badeten wir noch. Randy zog sich die Badehose umständlich unter einem Handtuch an. Er war immer noch sehr dünn und sah ganz verbogen aus. Auf seiner schneeweißen Brust kräuselten sich vereinzelte schwarze Haare. Das Wasser war kühl und grün. Randy sagte: »Ich war lange nicht mehr schwimmen. Aber das soll man ja angeblich nicht verlernen.« Er ließ sich ins Wasser gleiten. »Und?«, fragte ich vom Steg aus, »kalt?« »Ja, kalt, aber schön!« Er stieß sich ab und schwamm los. Ich sprang in den See, tauchte, kam neben ihm an die Oberfläche. »Geht’s?« Er nickte. Er konzentrierte sich auf die Schwimmbewegung und schloss bei jedem Brustzug, beim Vorwärtsstoßen der Arme die Handflächen, Finger auf Finger. »Schwimm nicht so weit raus!«, sagte ich und Randy antwortete: »Geht schon. Komm noch ein Stückchen!« Er schwamm schneller, ließ mich hinter sich, drehte sich um und rief: »An manchen Stellen ist der See achtzig Meter tief. Der stammt aus der Eiszeit. Einer der tiefsten Seen, die es hier gibt. Ganz unten am Grund wohnen die fetten Aale!« Das schwere Süßwasser drückte mir auf die Lunge. Randy brüllte und er war sichtlich stolz, den deutschen Ausdruck zu kennen, »Endmoräne!«, und tauchte. Wenn ich meine Beine ein wenig sinken ließ, wurde es sofort überraschend kalt. Ich wollte zurück, doch ich konnte im Schilfgürtel den Steg nicht mehr entdecken. Ein gutes Stück musste ich parallel zum Ufer schwimmen, mehrmals im Schlamm die Füße abstellen, der angenehm zwischen den Zehen hindurchquoll. Ich kletterte mühsam über das halbversunkene Boot hinauf. Das Wasser im Boot war seltsam warm. Ich trocknete mich ab und sah hinaus auf den See. Weit draußen lag Randy auf dem Rücken. Nachdem er, wie es mir vorkam, über eine halbe Stunde wie ein
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