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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Brett auf der Oberfläche getrieben war, begann ich mir Sorgen zu machen. Ich rief. »Hey, Raaaandy! Hey!« Er hob den Kopf, winkte und machte sich auf den Rückweg. Mit einer einzigen kraftvollen Bewegung schnellte er auf den Steg. Seine Lippen waren blau. Er hielt mir seinen Mund ans Ohr und sagte begeistert: »Hör mal, meine Zähne klappern!« Mehrmals nahm er noch Anlauf und sprang vom Steg. Ich erklärte ihm, wie man Negerköpper macht – die Arme nicht schützend über dem Kopf, sondern eng an den Körper gelegt. Er fragte mich: »Warum nennt man das denn Negerköpper?« Ich hatte keine Ahnung. Wir machten Arschbomben und versuchten, bis an die Zweige einer Buche zu spritzen. Jedes Mal, wenn ich in den See sprang, durchfuhr mich eine kleine, fast angenehme Panikwelle. Die eiszeitliche Tiefe des Sees, das undurchsichtige Grün. Randy setzte sich eine Spezialbrille auf, die er in der Jackentasche der Angelweste meines Bruders gefunden hatte, mit der er durch die Lichtreflexe der Wellen hindurch tief in den See hineingucken konnte. Dann warteten wir auf die Dunkelheit. Bereiteten alles vor. Aßen Sandwiches, Chips und tranken Saft, den Randy zur Kühlung an eine Angelsehne gebunden und im See versenkt hatte. »Das hab ich von meinem Vater gelernt. Immer band er seine Bierflaschen so an und versenkte sie im Fluss. Wenn wir nichts gefangen hatten, zog er die Bierflasche heraus und sagte: Wenigstens etwas!« Auf dem Wasser schwammen zwei Haubentaucher. Wir sahen ihnen zu. Sie konnten überraschend lange unter Wasser bleiben und tauchten dann plötzlich an so völlig anderen Stellen wieder auf, dass wir lachen mussten.
    Randy hatte drei Angeln dabei. Die Angelknoten, die er machte, waren kompliziert, und ich fragte ihn, wie er sie sich merken könne. Er sagte, dass jeder Knoten eine eigene Geschichte hätte. Er nahm das Ende der Angelsehne und flüsterte: »Ein Mädchen springt von einem Baum in einen See« – der See war eine Angelsehnenschlaufe –, »es taucht auf und klettert dreimal um den Baum herum. Dann springt sie wieder in den See, aber diesmal von unten.« »Was soll denn das heißen: Springt von unten in den See?« »Woher soll ich das wissen. Das stand so im Buch! Und wetten, der Knoten wird was?« Er zog an den Enden der Angelsehne und ein wunderschöner, sehr stabil wirkender Knoten wurde sichtbar. Doch es war noch zu früh, noch nicht dunkel genug, um die Angeln schon auszuwerfen. Wir rollten unsere Schlafsäcke auseinander. Bundeswehrschlafsäcke, die Arme hatten und deren unteren Teil man mit einem Reißverschluss abtrennen konnte. Der Wind, der den See bis vor Kurzem noch leicht gekräuselt hatte, legte sich, und mit dieser Abendflaute kam die Dämmerung nun rascher. Überall im Schilf kruschpelte es. Ich fragte Randy, was denn die Aale tagsüber machen würden. »Sie schlafen.« Mehr sagte er nicht. Mir fiel ein, was er mir über sich erzählt hatte: Auch im Gefängnis hatte er immer am Tage geschlafen und in der Nacht wach gelegen. Seit er bei uns wohnte, schlief er nachts, schlief, wie er sagte, so gut in der Nacht wie noch nie in seinem Leben. Mir wurde klar, dass sich durch die Zeitverschiebung für Randy gar nichts geändert hatte. Er hatte seine Schlaflosigkeit einfach mit zu uns genommen.
    Nun war es endlich dunkel genug und wir präparierten die Angeln. An jeden Haken kam ein Wurm. Jeder Wurm wurde dreifach durchstochen. Zweimal einfach hindurch, doch beim dritten Mal wurde der Wurm nicht ganz durchbohrt, sondern mit dem Kopf voran aufgefädelt, um den Widerhaken zu verstecken. »Aale sind schlau«, sagte Randy, »Karpfen sind vorsichtig und Lachse sind gierig! Wir fangen jetzt einfach an. Obwohl, so richtig spannend wird es erst mitten in der Nacht. Wenn es am dunkelsten ist, beißen sie angeblich am besten.« Oberhalb des sich windenden Regenwurms befestigte Randy ein Bleigewicht. Als er es festgeknotet hatte, wischte er es mit einem Taschentuch sauber. »Damit sie uns nicht riechen.« Er stellte sich an die Spitze des Stegs, den einen Fuß ganz an die Kante, den anderen etwas dahinter, prüfte seinen Stand. Genau so, wie sich in meine Sätze hin und wieder englische Ausdrücke schummelten, erging es Randy: »Sit down, sonst hast du gleich den Haken in der Backe.« Und dann katapultierte er den Wurm mit gekonntem Schwung durch die Dämmerung, viel weiter, als ich es für möglich gehalten hatte, auf den See hinaus. Die Angelrolle surrte hell. Ich war begeistert und rief laut: »So
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