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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika
Autoren: Joachim Meyerhoff
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In der Schule war es eine von meinen Mitschülern viel bewunderte Trophäe. Fast jeden zweiten Tag lag, wenn ich nach Hause kam, ein blauer Luftpostbrief neben meinem Teller. So wie ich es auch schon in Laramie gemacht hatte, nummerierte ich die Briefe. Ich war mittlerweile bei Brief Nummer hundertsechsundzwanzig. Doch dann, von einem Tag auf den anderen, kam kein Brief mehr. Ich wartete eine Woche, zwei Wochen. Ich war erleichtert, machte mir aber auch Sorgen. In der Zeitung hatte ich gelesen, dass eine Hinrichtungswelle die Gegner der Todesstrafe zu Demonstrationen veranlasst hatte und dass sogar in Staaten, in denen schon jahrelang kein Urteil mehr vollstreckt worden war, mehrere Hinrichtungen stattgefunden hatten.
    Ich öffnete seinen letzten Brief. Ein wirrer Brief. Seine Sache stünde auf Messers Schneide. Ob ich nicht irgendwelche Kontakte in Deutschland hätte. Juristen kennen würde. Ob ich zu ihm kommen könnte. Er hätte niemanden außer mir. Warum ich nicht mehr schreiben würde. Warum ich ihn im Stich ließe. Er wäre doch immer für mich da gewesen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte mit dieser ganzen Sache nichts zu tun haben, dachte aber ununterbrochen daran und ärgerte mich darüber, dass ich Randy Hart nicht loswurde.
    Eine Woche später kam ich von der Schule, klingelte. Durch die Glastür konnte man weit in den Flur hineinsehen. Unser Hund kam um die Ecke, lief den Gang entlang und hechelte seinen freudigen Atem gegen die Scheibe. Am Ende des Flurs rechts war die Küche. Meine Mutter blieb einen Moment im Flur stehen und sprach in Richtung Esstisch. Sie ging den Flur entlang auf mich zu. Noch bevor sie mir aufmachte und mir der Hund, der ja der Hund meines Bruders gewesen war, schwanzwedelnd seine Schnauze entgegenstreckte, sah ich auf ihrem Gesicht ein übergroßes besorgtes Erstaunen. Die Tür ging auf und während ich dem Hund den Kopf klopfte, fragte ich sofort, was los sei. »Du hast Besuch.« »Besuch. Wer?« »Aus Amerika.« Im Flur roch es nach Kohlrouladen. Ich ging in die Küche. Und da saß er: Randy Hart. An unserem Küchentisch. Er sah schlecht aus. Noch viel knochiger und eingefallener als damals im Gefängnis. Er sah mich an, stand auf. Es kostete ihn Mühe, aus dem Stuhl hochzukommen. Ging auf mich zu und umarmte mich. Er war größer, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Ein kurz geschorenes, hohlwangiges Gespenst. Beim Mittagessen aß er kaum etwas von den Kohlrouladen und erzählte schleppend von der plötzlich unmittelbar bevorstehenden Hinrichtung und seiner überraschenden Begnadigung aufgrund der Intervention der deutschen Seite. Seiner Freilassung und Ausweisung. Das einzige Geld, das er hatte, stammte aus dem Verkauf seines zweiundzwanzig Jahre alten Autos. Vorgestern war er entlassen worden, gestern in Frankfurt angekommen und heute zu mir gefahren. Meine Mutter saß neben uns am Küchentisch und traute ihren Ohren nicht. Sie wusste, wer Randy Hart war, hatte meine Brieffreundschaft mit einem zum Tode Verurteilten aber in ihrer typischen Art heiter verdrängt. Dass nun aber dieser Randy Hart bei uns am Mittagstisch saß und lustlos in ihren Kohlrouladen rumstocherte, überstieg ihr Vorstellungsvermögen. Ihm fielen beim Reden die grauen Augenlider zu. Meine Mutter bezog ihm das Bett in unserem neuen Gästezimmer, dem Zimmer meines Bruders. Die Bettwäsche kannte ich gut. Wieder umarmte er mich, sagte nah an meinem Ohr »Thank you so much!«, umarmte sogar meine Mutter, »Thanks, Mam, for giving me shelter!«, und ging schlafen.
    Er schlief und schlief. Mein Vater kam und wir saßen zusammen und überlegten, was wir tun sollten. Meine Eltern waren viel weniger verunsichert als ich. Ich wollte ihn so schnell wie möglich wieder loswerden und flüsterte: »Mam, das ist ein Mörder, ein echter Doppelmörder. Ich schlafe doch nicht im Zimmer neben einem Mörder, ey!« Meine Eltern aber weigerten sich, ihn einfach wegzuschicken.
    Er blieb bei uns. Wurde krank. Hatte tagelang hohes Fieber und hustete so stark, dass er mit Verdacht auf einen Rippenbruch ins Krankenhaus musste. Er war mit nichts weiter als einer kleinen Reisetasche gekommen. Meine Mutter legte ihm Anziehsachen meines Bruders heraus. »Ist doch besser, als wenn sie im Schrank hängen.« Eine Bundfaltenhose, mehrere Hemden und einen schwarzen Anzug. Der passte und stand ihm gut. Das Gefängnishemd trug ich in dieser Zeit natürlich nicht. Ich kochte für ihn Gerichte, die ich in Laramie von Hazel
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