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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika
Autoren: Joachim Meyerhoff
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und mein Bruder überlegte: »Wenn der Mann, der ganz vorne sitzt, Lokführer heißt, wie heißen dann wir? Gibt es dafür einen Namen? Für die Letzten im Zug?« Wir fuhren in einen Bahnhof ein, eine italienische Durchsage schepperte durch den Gang. Wir überlegten, wie wir uns nennen könnten und wie groß die Rolle oben auf dem Zug mit den Schienen sein müsste, um sie direkt während der Fahrt ins Tal abzuspulen. Wir erfanden einen Riesenbunsenbrenner, der das Eisen geschmeidig halten sollte, und mehrere Nietenpistolen, die genau in die Bohrungen treffen mussten. Aus einem der ersten Waggons sollte der Kies aus Luken direkt auf die Wiese fallen und von einer Walze planiert werden. In einer Gedankenpause spürten wir beide plötzlich die eigenartige Stille, die sich über den Waggon gelegt hatte. »Komm«, sagte mein Bruder, »wir gehen jetzt besser mal zurück.« In keinem Abteil saß mehr jemand. Wir rannten durch drei ausgestorbene Waggons, bis wir plötzlich vor einer verriegelten Tür standen, an der genau das gleiche Schild hing wie an dem Ende des Zuges, wo wir gerade herkamen. Die rote Schrift, der aus dem Zug fallende Mann. Ich bekam sofort Panik. »Was ist das? Was ist das? Wo ist Mami? Was ist das! Wo ist vorne?« Auch mein Bruder hatte einen riesigen Schreck bekommen, blieb aber ruhig. »Wir müssen hier so schnell wie möglich raus!« Er nahm das Schild ab und rüttelte an der Tür. »Das dürfen wir nicht. Lass das! Wir fallen raus. Sieh doch, der Mann!« Er rief »Wir müssen hier raus!«, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Durch das Glas konnte man einen von außen verkeilten Eisenbalken sehen. »Komm«, rief mein Bruder. Er zog die erste Abteiltür auf und riss das Schiebefenster herunter. »Komm! Ich helf dir!« Ich hatte furchtbare Angst. »Das darf man nicht! Man darf nicht aus dem Fenster klettern!« »Los jetzt! Wir müssen doch irgendwas machen!« Er kletterte vorweg. Ich sah ihn durch die Scheibe draußen hängen und zu mir hineingucken. Er ließ los und war weg. Ich sah aus dem Fenster. Er lag unten im Kies, suchte seine dicke Hornbrille, und neben ihm wuchs ein gelbblühender Strauch. Er stand auf: »Los jetzt! Jetzt du! Ich helf dir!« Noch nie hatte ich so eine Bedrohung, so eine tiefe Angst empfunden. Mit zitternden, nach Halt suchenden Füßen kletterte ich aus dem Fenster. Ich spürte die Hände meines Bruders an meinen Waden. Ich ließ los und sank ganz langsam zu Boden, so gut hatte er mich festgehalten. »Vorsicht an den Gleisen!« Vor jedem Gleis sahen wir wie artige Schulkinder an einer Straße nach links und rechts. Doch ich war mir sicher, so würde man Zügen nicht entkommen. Aus dem Hinterhalt würden sie hervorschießen und uns überrollen. Andauernd blieb mein Bruder stehen und sah mehrmals hin und her, hielt mich fest an der Hand, seinen kleinen Bruder, und bewältigte die lebensgefährliche Aufgabe, unbeschadet den rettenden Bahnhof zu erreichen.
    Als wir es geschafft hatten und in die schattige Bahnhofshalle traten, fing ich zu jammern an: »Was sollen wir nur machen? Wo ist denn der Zug?« »Na, weitergefahren! Warte, ich frag mal!« Hinter einer Scheibe mit durchlöchertem Sprechoval saß eine alte Frau mit knallroten Haaren. Mein Bruder fuchtelte mit den Armen, versuchte, sich verständlich zu machen. Sie zuckte immer wieder mit den Schultern und nahm ihr kleines rotes Uniformkäppchen ab. Ich dachte im ersten Moment: »Oh nein, ist die sauer! Jetzt reißt sie sich die roten Haare vom Kopf, ein ganzes Büschel, weil ihr mein Bruder so auf die Nerven geht.« Er kam zu mir zurück: »Die versteht kein Wort! Los komm!«
    Wir rannten auf den Vorplatz. Direkt vorm Bahnhof stand ein einzelnes Taxi. Auf dem Fahrersitz saß eine ebenfalls rothaarige Frau. Die Autotür geöffnet, ein langes Bein auf sehr hohem Absatz locker in den Kies gestellt. Rauchend. Sie sah der Frau vom Schalter sehr ähnlich, war aber dreißig Jahre jünger, höchstens fünfundzwanzig. Das haben wir uns später oft gefragt, ob das Mutter und Tochter waren. Wieder versuchte mein Bruder, unsere schreckliche Lage mit einzelnen Worten und wildem Zeigen deutlich zu machen. Sie stieg aus und streckte sich. Ihr Rock, der verdammt kurz war, rutschte noch ein wenig höher. Sie steckte sich die Zigarette in den knallroten Mundwinkel, zog den Rock wieder hinunter und schwenkte dabei einmal ihren Hintern hin und her. Mein Bruder sagte zu mir: »Los komm, wir müssen hoch zur Straße und ein Auto anhalten! Die
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